Den Körper jung hungern

Den Körper jung hungern
Nicht nur Teenager, sondern immer mehr erwachsene Frauen leiden unter Schlankheitsdruck.

Angefangen hat alles mit einer Diät. Nach der Scheidung wollte Claudia ein paar Kilo abnehmen, um "leichter einen neuen Mann kennenzulernen". Kurz darauf heiratete sie wieder, nahm weiter ab, wurde schwanger. Als sie das Kind verlor, verschlimmerte sich ihr Gewichtsverlust. Über die Jahre kontrollierte sie ihren Körper immer mehr. Mit 44 wog sie nur noch 42 Kilogramm bei 1,70 Meter Körpergröße, war ein Monat im Krankenhaus, wäre beinahe gestorben. "Ich glaube, ich hatte immer schon das Risiko für eine Essstörung, es kam nur erst später zum Vorschein", sagt die 53-Jährige heute.

So wie Claudia leiden viele Frauen mittleren Alters an einer Essstörung. Genaue Zahlen gibt es nicht, Studien und Erfahrungen aus Therapieeinrichtungen zeigen aber, dass das typische Bild des magersüchtigen Teenager-Mädchens erweitert werden muss. "Gerade bei Frauen im mittleren Alter besteht ein hoher gesellschaftlicher Druck, schlank zu sein. Fernsehserien und die Modewelt vermitteln, dass man auch in den Wechseljahren und danach die Figur einer Zwanzigjährigen haben kann", sagt Karin Waldherr, Vizepräsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Essstörungen.

Serien-Phänomen

Bezeichnet wird dies als "Desperate Housewives"-Effekt – nach der gleichnamigen Fernsehserie, in der die Hauptdarstellerinnen Frauen um die 40 verkörpern und gleichzeitig unwahrscheinlich dünn aussehen. Den Schauspielerinnen wird übrigens nachgesagt, während der Laufzeit der Serie bedenklich viel an Gewicht verloren zu haben.

Die Betroffenen leiden unter Magersucht, Ess-Brechsucht oder Binge eating disorder, bei der unkontrolliert gegessen wird (siehe unten). Neben der ständigen Beschäftigung mit dem eigenen Körper und teilweise lebensgefährlichem Gewichtsverlust bzw. -zunahme, kommt es oft zu Ängsten, Schamgefühlen und einem geringen Selbstwertgefühl – die Krankheit wird zum Kreislauf .

Auslöser

Unterschiede im Krankheitsverlauf zwischen jüngeren und älteren Frauen gibt es kaum. Bei beiden spielen psychologische, soziale, gesellschaftliche und biologische Faktoren eine Rolle. Beide leiden oft an weiteren psychischen Störungen, etwa Depressionen und Angststörungen. Auslösende Ereignisse sind meist starke Veränderungen und Lebensübergänge. "Während bei jungen Mädchen die Trennung der Eltern oder die Erkrankung eines Elternteils ein auslösendes Ereignis sein kann, ist es bei Frauen die eigene Scheidung oder eine Erkrankung", sagt Waldherr. Auch Jobverlust, der Auszug der Kinder und die Menopause können die Entwicklung einer Essstörung begünstigen. "Die Menopause hat sehr viel mit Veränderung zu tun, man muss sich neu auf den Körper einstellen. Bei Frauen, die bereits in jungen Jahren an einer Essstörung litten, kann dies einen Rückfall auslösen", erzählt Waldherr.

Den Körper jung hungern
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Echte Neuerkrankungen nach einem Alter von 30 Jahren sind selten, öfter handelt es sich um chronische Verläufe oder Rückfälle. "Manche wissen gar nicht, dass sie schon in der Pubertät eine Essstörung hatten. Es kann auch sein, dass die Krankheit lange übersehen wird", meint Brigitte Lenhard-Backhaus, Therapeutin am Therapiezentrum "intakt" für Menschen mit Essstörungen. Eine ihrer Klientinnen litt etwa 17 Jahre an Bulimie, ohne dass ihr Partner es merkte.

Bulimie und Binge eating disorder betreffen ältere Frauen häufiger als jüngere. Sie können von den Betroffenen länger verheimlicht werden als die an rapidem Gewichtsverlust sichtbare Magersucht. "Wenn das Leben zerbröselt, ist Essen für die Betroffen oft das letzte, das sie noch selbst in der Hand haben. In der Therapie geht es vor allem darum, welche Ressourcen man stärken muss, um das Leben zu bewältigen", so Lenhard-Backhaus.

Während bei jungen Mädchen die Aussicht, einmal ein Kind bekommen zu können – bei vielen Betroffenen kommt es aufgrund von Mangelernährung zu Unfruchtbarkeit – und eine glückliche Partnerschaft zu führen, Motivation für die Therapie sein kann, fällt dies in späteren Jahren weg. "Wichtig ist, den Betroffenen Mut zu machen. Das Essen wird immer ein Thema bleiben. In der Therapie geht es darum, Strategien zu erarbeiten, um rechtzeitig zu merken, wenn das Essen aus dem Ruder läuft und welche Optionen angewendet werden können", sagt Lenhard-Backhaus.

Die Prognose bei Krankheitsbeginn im Jugendalter ist jedenfalls günstiger als in späteren Jahren. Je länger die Erkrankung anhält, desto schwieriger ist sie therapierbar. Waldherr: "Essstörungen sind sehr schambesetzt, weshalb gerade ältere Frauen eine Scheu haben, Hilfe zu suchen. Wird der gesellschaftliche Druck, schlank, fit und jung zu bleiben, stärker, ist es nicht abwegig, dass Essstörungen bei Frauen ,im besten Alter‘ zunehmen werden."

www.intakt.at

Magersucht - Anorexia nervosa

Von dieser Erkrankung Betroffene versuchen ihr Körpergewicht zu reduzieren, indem sie hungern und z. B. Abführmittel oder Appetitzügler einnehmen. Ihr Selbstwert hängt stark davon ab, wie gut es ihnen gelingt, ihr Gewicht zu kontrollieren. Selbst bei deutlichem Untergewicht empfinden sich Betroffene als zu dick. Je nach Schweregrad kann es zu Mangelerscheinungen und dadurch bedingten Folgestörungen kommen, etwa hormonell bedingter Unfruchtbarkeit. Magersucht ist besonders bei heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen häufig.

Bulimie - Ess-Brechsucht

Diese Essstörung ist gekennzeichnet durch wiederholte Anfälle von Heißhunger und anschließendem absichtlichem Erbrechen. Bei den Essattacken werden große Mengen Nahrungsmittel in kurzer Zeit konsumiert. Aus einer krankhaften Furcht heraus, dick zu werden, kontrollieren die Betroffenen ihr Gewicht übertrieben stark. Neben dem Erbrechen wird oft mit anderen Maßnahmen der Gewichtszunahme gegengesteuert, etwa durch die Einnahme von Appetitzüglern oder übermäßigen Sport. Das Erbrechen kann zu Komplikationen führen.

Binge eating disorder - unkontrollierte Essanfälle

Beim Binge eating, engl. für Gelage, werden große Mengen an Lebensmitteln schnell und wahllos durcheinander bis zu einem unangenehmen Völlegefühl verzehrt. Anders als bei Bulimie wird das Gegessene aber nicht erbrochen, sodass es längerfristig zu Übergewicht kommt. Meist essen Betroffene alleine oder heimlich, haben Schuld- und Schamgefühle bis hin zur Depression. Treten regelmäßig Essanfälle auf, führt dies zu einer Beeinträchtigung der allgemeinen psychischen Befindlichkeit und einem erhöhten Leidensdruck.

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