Brandstätters Blick: Wer bin ich? Schon die Frage macht Angst

Das Muster auf unseren Fingern macht noch keine Identität aus.
Die Zugehörigkeit zu Gruppen – also die Suche nach der Identität – beschäftigt immer mehr Menschen.

Wer bin ich? Wo gehöre ich dazu? Und bin ich einzigartig?

Die letzte Frage ist leicht zu beantworten: Ja, jeder von uns hat eine einzigartige genetische Mischung, und auch den Fingerabdruck gibt es nur ein Mal. Das ohnehin nur schwer erkennbare Muster auf Daumen und Fingern macht aber noch keine Identität aus. Die war lange Zeit durch Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität und Religion definiert. Doch dann kamen Globalisierung und Migration, was für diejenigen, die daran aktiv teilnahmen, auch noch kein Problem war. Aber wer sich überfahren fühlte, hat plötzlich die Selbstverständlichkeit vermisst, die früher so viel Sicherheit gegeben hat.

Nun soll keiner sagen, dass die Eliten das nicht mitbekommen haben. Vor allem populistische Politiker spielen schon länger mit den Gefühlen von Menschen, die meinen, dass sie zu kurz gekommen sind. Und sei es nur gegenüber einem Nachbarn oder einem Zuwanderer. Die Plakate von Alexander van der Bellen mit dem Hund im Vordergrund und dem Wort Heimat dahinter waren auch ein Appell an die Wähler, eine gemeinsame Identität zu spüren.

Die Suche nach Würde

Jetzt will die Wissenschaft erklären, was sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Francis Fukuyama, der amerikanische Politologe, der 1992 das „Ende der Geschichte“ gesehen hat, weil er nach dem Scheitern des Kommunismus den Erfolg der liberalen Demokratie bis zum Ende aller Tage vermutete, schrieb nun das Buch: „Identity“. Untertitel: „Der Wunsch nach Würde und die Politik der Feindseligkeit“.

„Identitätspolitik“, schreibt Fukuyama, also politisches Handeln für jeweils nur eine Gruppe von Menschen, „ist eine der stärksten gefahren für die liberale Demokratie, außer wir finden zurück zu einem universellen Verständnis von menschlicher Würde.“

Das Wort Disruption wird gerne für den Vorgang von grundsätzlichen Umstellungen in der Wirtschaft verwendet. Die Umstellung auf die Digitalisierung verändert aber nicht nur die Art und Weise, wie wir produzieren und kommunizieren, sie verändert unser ganzes Leben mit einer Geschwindigkeit, die noch keine Generation vor uns erlebt hat. Verbunden mit Wanderungsbewegungen, die wir heute auch dann durch die Medien erleben, wenn wir davon kaum etwas mitbekommen. Das macht Angst, und das ist der beste Treibstoff für verantwortungslose Politik. Wer das Amerika der 1950er-Jahre oder ein Europa ohne Zuwanderung verspricht, belügt die Menschen, bringt aber dennoch ein Stück scheinbarer Sicherheit.

Die Suche nach Identität

Bleibt man im klassischen Links-Rechts-Schema, so fällt auf, dass sich die Linke mit der Suche nach Identität viel schwerer tut. Im Kapitalismus der sich rasch entwickelnden Industrialisierung war das einfach: Wer seine Arbeitskraft verkaufen musste, konnte sich organisieren, gehörte dann dazu. Der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist – auch durch die Digitalisierung – jedenfalls abgemildert, die materiellen Bedürfnisse alleine bringen keine Identität mehr. Und von der „Vereinigung der Proletarier aller Länder“ wollen Gewerkschafter, die auf hohe Lohnabschlüsse bei uns setzen, auch nichts mehr wissen.

Die Rechte hat ihre Chance schneller erkannt. Sie setzt zunehmend auf die Zugehörigkeit zu einem Volk, da geht es bloß um Abstammung – das „jus sanguinis“ – weniger um gemeinsam Werte.

Die Vorstellung von einer Nation, die ausschließlich auf eine völkische Zugehörigkeit setzt, ist auf einem Kontinent der ewigen Völkerwanderungen und Vermischungen absurd. Aber wie kann sich in europäischen Nationen, oder gar in ganz Europa eine gemeinsame Identität bilden?

Gemeinsames Bekenntnis

Francis Fukuyama hat eine Antwort, die seiner Meinung nach auch für die USA zutrifft: Er schlägt eine „creedal identity“ vor . Das ist nicht so einfach zu übersetzen – das Buch gibt es noch nicht auf deutsch – aber da geht es um eine Identität, die von einem gemeinsamen Bekenntnis für einen Staat getragen wird. An dessen Werte müssen alle glauben. Das geht in die Richtung des Verfassungspatriotismus, der von deutschen Politologen entwickelt wurde. Wer sich zur Verfassung und zu den Werten einer Nation und eines Staates bekennt, der gehört auch dazu. Zur Integration bereit sein müssen beide – das Staatsvolk und die Zuwanderer. Fukuyama argumentiert aber auch, dass die jeweilige Einheit, in Europa die Europäische Union, ihre Grenzen besser schützt und nur Menschen hereinlässt, die zu diesem Bekenntnis, zur Verfassung und zu den Werten stehen wollen.

Möglichst viele Menschen müssen sich vom Staat und der Gesellschaft geschätzt und anerkannt fühlen. Das nimmt dann auch Angst.

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