"Anschläge werden blutiger"

Beim jüngsten Anschlag in Istanbul wurden 44 Menschen getötet
Der israelische Wissenschaftler Ariel Merari über die Psyche von islamistischen Selbstmordattentätern.

Istanbul, Brüssel, Kabul, Bagdad. Nahezu im Wochentakt erschütterten Selbstmordattentate weltweit die Öffentlichkeit. Es sind vor allem "weiche Ziele" wie Flughäfen oder belebte Einkaufsstraßen, die von den Terroristen des IS gegenwärtig ins Visier genommen werden – mit dem Ziel: so viele zivile Opfer wie möglich.

Aber was geht in den Köpfen von Selbstmordattentätern vor? Warum entschließen sich vor allem junge Männer, mit ihrem Selbstmord unschuldige Menschen mit in den Tod zu reißen?

Der israelische Psychologe Ariel Merari von der Universität Tel Aviv hat für sein Buch "Driven to Death" (Verlag: Oxford University Press) die Psyche von vornehmlich palästinensischen Selbstmordattentätern untersucht. Er hat Täter getroffen, deren Bomben nicht explodiert waren, und Hintermänner befragt. Im KURIER-Gespräch erklärt er die Psyche der Täter und zeichnet ein düsteres Bild für die Zukunft.

KURIER: Herr Professor, wie erforscht man das Wesen von Selbstmordattentätern?

Ariel Merari: Das ist natürlich nicht einfach, aber wir haben zum einen Familien, aber auch Freunde und Bekannte verstorbener Attentäter befragt, und zum anderen 15 Männer, deren Anschläge fehlschlugen, weil sie es sich kurz zuvor anders überlegten, oder weil der Sprengsatz nicht funktionierte. Außerdem haben wir einige Hintermänner von Selbstmordanschlägen getroffen, die in Haft sitzen.

Gibt es einen bestimmten Typus von Attentätern?

Bisher dachte man, dass Selbstmordattentäter sehr unterschiedliche Persönlichkeiten sind, aber wir konnten in unseren Studien typische Persönlichkeitsprofile feststellen. So haben wir herausgefunden, dass viele Attentäter ein sehr geringes Selbstbewusstsein haben, sie können Autoritätspersonen gegenüber nur sehr schwer Nein sagen. Wir bezeichnen diesen Typus als abhängig-vermeidend. Rund 60 Prozent der Attentäter fallen in diese Kategorie. Dann gibt es noch den impulsiven Typ, zu dem etwa 20 Prozent zählen: Diese Personen sind emotional sehr instabil.

Was motiviert einen Menschen, sich selbst zu töten mit dem Ziel, so viele unschuldige Menschen, wie möglich mit in den Tod zu reißen? Sind das alles religiöse Fanatiker?

"Anschläge werden blutiger"
Ariel Merari
Nein. Wir müssen unterscheiden: Bei den palästinensischen Selbstmordattentätern waren es überwiegend politische Motive, die Religion war hier nur ein Vehikel. Man verfolgte mit der Unabhängigkeit von Palästina ein klares politisches Ziel, die Attentäter waren oder sind bis heute Volkshelden. Der IS gibt hingegen religiöse Ziele an. Er will den Westen bestrafen. Es geht hauptsächlich um größtmögliche Zerstörung. Aber bei den meisten Attentätern handelt es sich nicht um religiöse Fanatiker. Und nur ein sehr geringer Prozentsatz von Muslimen steht hinter IS-Terroristen.

Warum entschließt sich ein junger Mensch, seinem Leben so ein Ende zu setzen? Wie wird er beeinflusst, trifft er die Entscheidung selbst?

Es gibt die Theorie, dass sich muslimische Selbstmordattentäter in erster Linie selbst umbringen wollen. Und weil der Suizid im Islam verboten ist, sehen sie im Märtyrertod den einzigen Weg. Das heißt, ihr Suizid im Namen des Dschihad bekommt für sie so eine andere Bedeutung. Es wird also sozial etwas akzeptiert, was im Islam eigentlich verboten ist. Wir haben herausgefunden, dass viele Attentäter psychisch labil waren und oft keinen Ausweg mehr sahen, oftmals aus unerfüllter Liebe, Problemen im Job, Depressionen. Rund 40 Prozent der Attentäter waren suizidgefährdet. Wir haben einen verhinderten Attentäter befragt, der sagte, ich wollte nur sterben, egal wie, und egal, ob ich in den Himmel oder in die Hölle komme.

Es handelt sich also oftmals um eine Art erweiterter Selbstmord?

Ja. Und der eigene Tod lässt sich so auch noch glorifizieren.

Eine Reihe von Attentaten wie in Paris oder Brüssel oder jetzt in Istanbul wird gleichzeitig von mehreren Attentätern durchgeführt. Wie lässt sich das erklären?

Der Gruppendruck spielt eine sehr wichtige Rolle. Die Attentäter agieren meist in einer Gruppe, es gibt einen dominanten Führer, der über alles entscheidet, es entsteht eine Art Kult. Die Attentäter gehen innerhalb dieser Gruppe eine Art Vertrag ein, dass sie sich für die Sache opfern.

Melden sich die Attentäter in der Regel freiwillig, oder werden sie rekrutiert?

Etwa die Hälfte meldete sich freiwillig, die anderen wurden rekrutiert und dann manipuliert. Selbstmordattentäter handeln nie allein, sondern immer aus einer Gruppe oder einer Organisation heraus.

Das eine ist der Entschluss, sich selbst zu opfern, das andere die Durchführung. Sind die Attentäter frei von Angst? Was geht in ihnen vor?

Rund 60 Prozent der Männer sagten, sie hätten große Zweifel gehabt. Je näher der Zeitpunkt zu sterben kam, desto größer sei ihre Angst geworden. Wir kennen das aus zahlreichen psychologischen Studien. Das erklärt auch, warum rund 60 Prozent der Attentäter es sich in letzter Minute anders überlegen und aussteigen.

Es ist nahezu unvorstellbar, also der Moment, wo der Attentäter die Bombe zündet, im Bewusstsein, dass er gleich selbst stirbt und Dutzende Menschen mit in den Tod reißt.

Ich habe mit einem Mann gesprochen, dessen Zünder nicht funktionierte. Er erzählte, dass er große Angst hatte und auf dem Weg zur Bushaltestelle, wo er sich in einem Bus in die Luft sprengen wollte, über Kopfhörer Koranverse hörte. Er erzählte uns, dass er rekrutiert worden war. Die Furcht sei von Tag zu Tag schlimmer geworden. Aber als er dann in den Bus stieg, muss etwas mit ihm passiert sein. Seinen Angaben nach kann er sich an nichts mehr erinnern. Das ist durchaus glaubhaft. Fahrgäste erzählten später, was dann geschah: Der Attentäter versuchte in der Mitte des Busses die Bombe zu zünden. Aber es funktionierte nicht. Er drückte immer wieder auf den Knopf, die Fahrgäste versuchten ihn zu überwältigen, er schrie, biss und kratzte. Er muss in einem anderen Bewusstseinszustand gewesen sein. Psychologen nennen das dissoziativ: Sie lösen sich von der Welt.

Was weiß man über die Hintermänner?

Ich habe mit einigen gesprochen, sie waren gebildeter und älter als die ausführenden Attentäter, hatten oft einen Universitätsabschluss. Sie sagten alle, die Attentäter hätten sich alle freiwillig gemeldet. Aber das stimmt natürlich nicht, wie wir wissen. Sie hatten junge Menschen dazu gebracht, Unschuldige zu töten. Dabei wussten sie genau, was sie taten – sie waren sehr berechnend und keine Psychopathen. Überraschend für mich: Fast alle gaben an, dass sie sich selbst nie als Selbstmordattentäter zur Verfügung gestellt hätten.

Glauben Sie, dass die Attentate mehr werden?

Ja. Je mehr der IS in die Enge getrieben wird, desto öfter werden sie zuschlagen. Ich bin da sehr pessimistisch, die Anschläge werden immer blutiger werden. Der IS kennt keine moralischen Grenzen.

Geschichte von Attentaten: Antike bis Neuzeit

Das Opfer des eigenen Lebens für ein politisches Ziel war nicht immer islamistisch motiviert. Frühe Selbstmordattentate gab es auch schon in der Antike. Im Alten Testament im Buch der Richter, wird ein Selbstmord- attentat von Samson beschrieben. Im Zweiten Weltkrieg waren es die Angriffe der japanischen Kamikazeflieger. Am 21. März 1943 versuchte der Wehrmachtsoffizier Rudolf-Christoph Frhr. v. Gersdorff Adolf Hitler durch ein Selbstmordattentat zu töten. Islamistisch motivierte Selbstmordattentate gibt es seit den frühen Siebzigerjahren.

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