Alzheimer mit 40 – ein dreijähriger Abschied

Alzheimer mit 40 – ein dreijähriger Abschied
Es gibt viele Alzheimer-Schicksale. Die meisten davon betreffen ältere Menschen. Doch diese Geschichte handelt von einer Mutter am Anfang der Vierziger und einem seltenen Gen-Defekt.

Am 20. Januar 2015 ist Yvonne Herber eingeschlafen und nie wieder aufgewacht. Ihr Tod kam trotz des langen Leidensweges sehr plötzlich, aber friedlich.

"Es war zeitweise die Hölle, ein Albtraum. Jetzt, wo alles überstanden ist, denke ich: Gut, dass ich nach der Diagnose nicht ansatzweise geahnt habe, was auf mich zukommt.“

Hans Jürgen Herber meint diese Worte sehr ernst. Seine Frau ist nur 46 Jahre alt geworden, die Krankheit, die ihm die Frau und seinem Sohn die Mutter weggenommen hat, heißt Alzheimer. Es handelt sich dabei um eine Hirnerkrankung, bei der nach und nach Nervenzellen und wichtige Nervenverbindungen absterben. Die Folge sind Gedächtnisstörungen, Sprachstörungen und ein fehlender Orientierungssinn. Die meisten Menschen erkranken erst im fortgeschrittenen Alter an Morbus Alzheimer, so der medizinische Fachbegriff. Doch Yvonne Herber war nicht einmal 42 Jahre alt als sie die niederschmetternde Diagnose erhielt. Ein paar Jahre später ist sie tot, ihr Mann schreibt seine Erfahrungen in dem Buch „Der lange Abschied“ nieder. Die Herbers haben ihren Leidensweg auch vom Autor Thomas Liesen und einer Kamera begleiten lassen. Der schonungslose und sehr berührende Film „Leben, lieben, vergessen“ lief im Jahr 2014 im WDR.

Der Mann schreibt

Wenn ein Mann, dessen Frau im Alter von vierzig Jahren eine unheilbare Diagnose bekommt, ihr das Versprechen gebe, sie nicht alleine zu lassen und sie durch alles hindurch zu begleiten, was immer auch kommen mag, so klinge das zuerst einmal nach einer Selbstverständlichkeit. Wahre Liebe, das wüsste jeder, bewähre sich erst in der Krise, eben dann, wenn sie neben den guten auch die schlechten Zeiten überstehe. So beginnt Hans Jürgen Herbers Buch.

Alzheimer ist anders. Alzheimer verändert alles. Es gibt eine Vielzahl an Krankheiten, die ohne Heilungsperspektive verlaufen, die tödlich enden. Doch wenn diese Krankheit deinen geliebten Partner nicht nur schwächt, aus dem Alltag nimmt und lebensuntüchtig macht, sondern auch als Person, als dein Gegenüber erodieren lässt, dann ist das eine neue, andere Dimension. Der geliebte Mensch, der mit Geist und Seele ein Teil deines Lebens war, verschwindet vor deinen Augen wie eine Bleistiftzeichnung unter dem Radiergummi, verweht wie eine Düne im Sandsturm. Gespräche verlaufen sich in Endlos-Schleifen, zerfallen in absurde Bestandteile, werden zu verzweifelten Monologen. Erinnerungsdepots, einst die Verankerungen des gemeinsamen Glücks, stehen plötzlich leer wie verrottende Industriebauten. Dein Partner entgleitet dir vor deinen Augen in einen andern, namenlosen Kosmos, zu dem dir der Zugangscode fehlt. Und nicht nur das. Der geliebte Mensch wird streitsüchtig, infantil, inkontinent.“

Die Zeilen, die der Witwer schreibt, sind ehrlich, hart und geben Einblick in die Zeit mit einem Menschen, der beginnt, geistig zu verfallen. Er erinnert sich in dem Buch, in dem er das Geschehene verarbeitet, an diesen einen Moment, der das Leben der kleinen Familie schlagartig verändern sollte.

„Yvonne und ich sitzen am großen Holztisch, der unsere geräumige und lichte Wohnküche beherrscht. Der Tisch ist der Mittelpunkt unseres häuslichen Lebens; hier wird gekocht, gegessen, beratschlagt, gespielt, gefeiert. Aber jetzt ist das Haus still. Marc, unser elfjähriger Sohn, ist in der Schule....Yvonne nimmt schweigend den Kaffee in Empfang, den ich ihr auf den Tisch stelle. Wir sind beide ratlos. Wie erschlagen. Yvonne wird in einem Monat 42 Jahre alt. Yvonne hat Alzheimer. Ich betrachte meine Frau und bringe es nicht zusammen. Es ist genauso wahr, wie es absurd ist. Monate der Ungewissheit, der Spekulationen und medizinischen Vermutungen sind mit einem Schlag beendet. Und trotz dieser Diagnose wissen wir beide genau genommen doch weniger als vorher. Alzheimer: Was hat das überhaupt zu bedeuten? Was kommt jetzt auf uns zu? Und wie lange werden wir in der Lage sein, hier im Haus eine Art Normalität zu wahren? Wann kommt der Tag, an dem Yvonne mir und Marc entgleitet? Und zu guter Letzt: Gibt es nicht doch noch irgendeine Hoffnung für Yvonne – von medizinischer Seite?"

Auf Yvonne konnte man sich nicht mehr verlassen

Mediziner sagen, Morbus Alzheimer verläuft umso drastischer, je früher diese Krankheit ausbricht. Sie zerstöre schrittweise alle Funktionen des Gehirns. Und diese Krankheit ende tödlich. Die Ärzte gaben Yvonne eine maximale Lebenserwartung von acht bis zehn Jahren. Sie hatte bereits seit Langem mit ersten Anzeichen zu kämpfen: Sie verlegte Dinge, vergaß ihre PIN-Codes, ihre Geldbörse, ließ Autoschlüssel liegen. Das Leben der Herbers geriet immer mehr aus der Bahn. Auf Yvonne konnte man sich nicht mehr verlassen. Es wurde immer schlimmer. Kochen, Wäsche waschen, Rechnungen begleichen – nichts konnte sie mehr vollständig erledigen. Es gab viele Streitereien. Im Büro bekam Yvonne große Probleme. Sie wurde daraufhin in unterschiedliche Abteilungen versetzt,mit immer weniger Verantwortung, sie hatte sehr darunter gelitten. Am Schluss arbeitete sie im Lager einer Autowerkstatt. Yvonne erlitt schließlich einen Zusammenbruch. Im Arztbericht war zuerst von einer seelischen Krise die Rede. Diese könnte eben auch die Leistungs- und Merkfähigkeit beeinträchtigen, zumindest phasenweise. Es folgten stationäre Behandlungen, Medikamente und Psychotherapien. Ihr Zustand wurde besser, sie fühlte sich wieder mehr wie ein funktionierender Mensch, doch die Merkstörungen, die gingen nicht weg. Die Ärzte standen vor einem Rätsel.

Die Tests zeigten messbare kognitive Beeinträchtigungen, insbesondere in den Bereichen Gedächtnis, Sprachproduktion und visuell-räumliche Fähigkeiten, die allerdings mit einer Depression allein nicht zu erklären waren. Die Suche nach der Ursache ging weiter. Die Ärzte nahmen eine Untersuchung des Hirnwassers vor. Danach stand es fest: Deutliche Hinweise einer Alzheimer-Demenz.

„Yvonne hat ihren Kaffee nicht angerührt“

Ich bin befangen, gebe mir einen Ruck und stehe auf, lege ihr den Arm um die Schulter.„Jetzt – sollten wir vor allem sehen, dass wir das Leben genießen, das wir noch zusammen haben. Die Zeit, die uns bleibt. “Was wissen wir schon, wie viel Zeit das ist?“, geht Yvonne dazwischen. Sie ist aufgelöst vor Angst, weint. Sie stellt die Fragen, die sie erdrücken: Wann wird der Tag kommen, an dem sie mich oder Marc nicht mehr erkennt? Wie werden wir damit umgehen? „Yvonne, du sollst wissen, dass ich dich – egal was kommt – nicht alleine lassen werde. Ich werde für dich da sein.“ Sie schaut mich an. Gibt mir einen Kuss. Dann sagt sie leise „Ich weiß“ und „danke“.

Ein seltener Gendefekt

„Der Druck ist weg“, schreibt ihr Mann später über diesen Moment als sie erfuhren, dass Yvonne Alzheimer hat. Doch an dessen Stelle habe eine Zeitbombe zu ticken begonnen. Warum seine Frau so früh an dieser Krankheit sterben musste, liegt an PSEN1 – so lautet die Abkürzung der sehr seltenen Form von Yvonne Herbers Schicksal. Dieses PSEN1-Gen war bei ihr in verändert, sodass es zum frühen und heftigen Einsetzen von Alzheimer kam. Die Ärzte interessierten sich deshalb für ihren Fall, einige neue Medikamente wurden an ihr erprobt. Doch ohne Erfolg. Yvonne registrierte ihren Verfall ungewöhnlich bewusst. Das machte sie traurig - und sehr aggressiv. Vor allem die geschlossene Psychiatrie, in die Hans Jürgen Herber seine kranke Frau zuletzt deshalb immer wieder bringen musste, werde er nie vergessen. Uringeruch, schreiende Patienten, sich aufopfernde Pfleger.

Das Wichtigste, was er Angehörigen von Alzheimer-Patienten mitgeben möchte, ist, sich Zeit zu nehmen. Zeit für sich. „Einige Stunden, vielleicht auch Tage, in denen man nicht mit dem Erkrankten zusammen ist“, schreibt er. Die Pflege sei mühsam. Aber das Schlimmste sei es, dem Verfall der geliebten Frau zusehen zu müssen.

Auch wenn ihr Mann und der Sohn versuchen, das Geschehene hinter sich zu lassen, so bleibt Yvonne Herbers Gendefekt weiter Thema für die beiden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sohn Marc ihn geerbt hat, liegt bei 50 Prozent.

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