Warum Europa doch nicht verloren ist

Warum Europa doch nicht verloren ist
Analyse: Wo sonst sollte ein neues, nachhaltiges Wachstumsmodell entstehen – wenn nicht in der EU?
Warum Europa doch nicht verloren ist

Amerikaner sind innovativ, Asiaten effizient. Aber was sind die Europäer? Die Weltbank spürte 2012, auf dem Höhepunkt der Eurokrise, dem Wachstumsmodell der EU nach (zum Bericht hier). Eine ihrer Erkenntnisse: Wenn Europa wo eine Großmacht ist, dann in Sachen Lifestyle. In keiner anderen Region ist die Lebensqualität höher, keine andere zieht so viele Touristen an. Erfreulich, aber reicht das zu mehr als einem History-Themenpark für reiche Asiaten?

1. Stellenwert in der Welt

Es ist nicht daran zu rütteln. Das Gewicht der EU sinkt und wird weiter sinken, sowohl der Anteil an der Weltbevölkerung als auch an der Wirtschaftsleistung (Grafik unten). Ohne Großbritannien fällt das Bild noch trister aus.

Ganz alt sieht der Kontinent bei den Wachstumsraten aus. Aber ist das überhaupt noch erstrebenswert – "mehr, mehr, mehr", koste es, was es wolle? Das alte Wachstumsdogma krankt an drei Stellen: Es basiert auf Schulden, betreibt Raubbau an der Umwelt und lässt zu viele Menschen benachteiligt zurück. Das schöne Dasein in der Gegenwart ist auf Kosten der nächsten Generation erkauft.

2. Mögliche Alternativen

Völlig zukunftsvergessen zeigt sich Donald Trump in den USA: Klimawandel? Sollen sich unsere Kinder darum kümmern. Experten warnen vor einem "Zuckerschock": Auf eine mit Billionen Dollar entfachte, kurze Euphorie könnte ein schwerer Kater mit drückenden Schulden folgen. Etliche von Trumps Ideen atmen den Geist der 1980er-Jahre. Das darf nicht Europas Weg sein. Was sonst?

Alternativen haben 34 Unis und Forschungsinstitute unter Leitung des WIFO skizziert (WWW for Europe, Ergebnisse hier). Ihre Vision: "Europa wird 2050 eine Region mit hohen sozialen und ökologischen Standards sein, die den Bürgern hohe Lebensqualität sichert. Es wird ein dynamischer, offener und vielfältiger Wirtschaftsraum sein."

3. Historische Erfolge

Nur: Wie soll das gehen, in einer Zeit von Rekordarbeitslosigkeit, von Schulden- und Flüchtlingskrise, von Klimawandel und Digitalisierungsangst: Ist das nicht unendlich naiv? Nein, denn die EU hat bewiesen, dass es funktioniert – was gern vergessen wird. In weniger als einer Generation konnten die postkommunistischen Länder ihr Wohlstandsgefälle enorm reduzieren. In der EU. Wo stand Tschechien Anfang der 1990er, wo heute?

Sogar die Weltbank nennt das eine historisch einzigartige "Konvergenz-Maschine". Die Krise brachte die Aufholmechanik freilich zum Stottern.

4. Europas Stärken

Innovation gilt als Schlüssel zum Erfolg. Betrachtet man nur die Spitzenplätze, liegen die USA weit vorne. Dieses Bild trügt aber, denn Europas Stärke liegt in der Breite. Den USA fehlt diese enorme Vielzahl innovativer Klein- und Mittelbetriebe.

Wo die digitale auf die reale Welt trifft, bei Produktionsanlagen, Robotern oder Logistik, sind EU-Firmen Weltklasse. Oder Umwelttechnologie: Was die USA da als Innovation feiern – von der Fußbodenheizung bis zu Erneuerbarer Energie – kostet heimische Technologieführer ein mildes Lächeln.

Und wer wollte schon in Sachen Menschenrechte, Sozial- und Umweltstandards ernsthaft mit China tauschen?

Fazit: Erfolg hat nur, wer seine Stärken kennt. Selbstbewusstsein fehlt den Amerikanern und Chinesen ganz sicher nicht. Den Europäern schon.

Warum Europa doch nicht verloren ist

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Das Bonmot ist bei konservativen Politikern höchst beliebt: „Europa macht sieben Prozent der Weltbevölkerung aus, erzielt 25 Prozent der globalen Wirtschaftsproduktion, leistet sich aber 50 Prozent der Sozialausgaben.“

Angela Merkel hatte das 2012 erwähnt. Wolfgang Schäuble, David Cameron, Christoph Leitl oder Reinhold Mitterlehner griffen es später auf. Die implizite Botschaft: Das können wir uns nicht (mehr) leisten. Aber stimmen die Zahlen?

BIP-Anteil geschrumpft

Sieben Prozent der Weltbevölkerung ist immer noch korrekt, allerdings für die EU. Ohne Großbritannien wird der Wert bis 2021 übrigens auf 5,8 Prozent sinken. Die Angabe zur Wirtschaftsleistung stimmt nicht ganz: In Dollar gerechnet hat die EU 22 Prozent Anteil, umgelegt auf die Kaufkraft 16,8 Prozent (ohne Briten nur 14,5 Prozent).

Leistet sich die EU wirklich die Hälfte der weltweiten Sozialausgaben? Das ist schwer nachzuvollziehen. Was konkret zu den Sozialkosten gezählt wird, bleibt im Nebel. Die Größenordnung könnte passen, urteilten britische Faktenchecker (full facts.org). 2012 errechnete die Weltbank nämlich 58 Prozent Anteil – aber für ganz Europa und unter nur 96 Ländern.

Konträre Interpretationen

Und, ist das künftig noch leistbar? „Verteilen kann man nur, was man zuvor erwirtschaftet hat“, betont Rolf Gleißner von der Wirtschaftskammer. Er ergänzt, dass Europa nur für 3 Prozent der Geburten weltweit steht.

So hatte auch Angela Merkel die Zahlen verstanden, etwa in einem Interview mit der Financial Times Ende 2012. "Es ist offensichtlich, dass (wir Europäer) sehr hart arbeiten müssen, um unseren Wohlstand und Lebensstil aufrecht erhalten zu können." Andernfalls werde es schwer sein, im globalen Maßstab wettbewerbsfähig zu bleiben.

„Die Geschichte wird falsch herum erzählt“, kontert hingegen Arbeiterkammer-Wien-Ökonom Markus Marterbauer. Die soziale Absicherung sorge für mehr Offenheit, stabileres Wachstum und höhere Produktivität. Und gerade deshalb könnten so wenige Europäer fast ein Viertel des Welt-BIP erzeugen.

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