So ein Elend. Was für ein Boom! Unser verzerrtes Afrika-Bild

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Analyse: Warum wir uns so unendlich schwertun, Afrika in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen.

Nehmen Sie sich fünf Sekunden Zeit und denken Sie an Afrika. Welche Schlagworte kommen Ihnen dabei in den Sinn? Waren womöglich Armut, Hunger, Krieg, Korruption, Migration darunter?

Spannend, denn aktuell erscheint eine Vielzahl an Sachbüchern, die ganz andere Erwartungen wecken. Da ist vom Afrika-Boom die Rede,  vom unaufhaltsamen Vormarsch und der Ablöse Asiens als größte Wachstumsregion. Was stimmt denn nun?

Heterogenität

Ja, Afrika ist ein Kontinent der Extreme. 400 Millionen Menschen, etwa ein Drittel der Bevölkerung, fristen ihr Dasein in extremer Armut und leben von weniger als 1,90 Dollar am Tag.

Zugleich stammen elf von 2043 Dollar-Milliardären weltweit aus Afrika. Das Vermögen von Zement-Tycoon Aliko Dangote aus Nigeria wird auf 14,1 Milliarden Dollar geschätzt. 

Das sind zwar Fakten. Sie bilden aber nur winzige Details einer komplexen Realität ab.  Die Afrikanische Union zählt 55 Staaten. Kein Europäer käme auf die Idee,  Amerika (samt USA und Venezuela) als einheitliches Gebilde zu verstehen.

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Faible für Extreme

Das menschliche Gehirn tut sich leichter, wenn es die Welt mental in zwei Hälften teilen kann. Journalisten, die von NGO in Armutsregionen eingeladen werden, oder Dokumentarfilmer, die spektakuläre Bilder suchen, verstärken diese Wahrnehmung.

Der (2017 verstorbene) Statistiker Hans Rosling nannte das den „Instinkt der Kluft“. Obwohl 75 Prozent der Bevölkerung in Ländern mit mittleren Einkommen leben, trennen wir die Welt weiterhin in Arm und Reich. 

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Die Welt ist besser, als man denkt: Hans Rosling (1948-2017)

Für viele Afrikaner wäre es ein existenzieller Aufstieg, wenn sie Zugang zu sauberem Wasser, ein Fahrrad oder gar  Strom hätten. Aus dem reichen Europa betrachtet sind sie alle unterschiedslos arm.

So wird gerne übersehen, dass eine urbane  Mittelschicht entsteht. 300 bis 400 Millionen Menschen (bald eine Milliarde) streben  nach Wohlstand, wollen reisen und konsumieren. Wirtschaftsexperten haben diese Schicht im Blick, wenn sie Afrika eine  Aufstiegsstory prophezeien.

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Erfolge im Kleinen

Schaut man nur auf die Finanzen, dann wird die Ungleichheit bei Einkommen und Konsum immer größer. Dabei werde übersehen: „Die Lage der Ärmsten hat sich verbessert, wenn auch nicht so rasch, wie sie es sollte“, sagte Neeshan Bolton von der südafrikanischen Kathrada-Stiftung für Menschenrechte.

Es sei üblich geworden, dass Kinder in die Schule gehen, dass sich die Wasserversorgung und Hygienestandards  bessern (Grafiken). Technologisch sind manche Regionen Afrikas Europa sogar schon voraus, weil veraltete Entwicklungen schlicht übersprungen wurden – etwa beim  Mobilfunk, dezentraler Stromerzeugung  oder im Einsatz von Drohnen.

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Die Rolle der Politik

Umdenken muss auch die Entwicklungszusammenarbeit der EU. Bisher gab es lediglich Hilfszuwendungen oder knallharte Handelspolitik – dazwischen war wenig. Das ändert sich gerade.

„Geld hinschicken hat nur manchen Regionen mehr Wohlstand gebracht“, sagt Nella Hengstler, langjährige Wirtschaftsdelegierte in Lagos, Nigeria. Der Ansatz der modernen Entwicklungspolitik  sei es, die Privatwirtschaft zu stärken.

Migration, Technologie, Demographie, Österreicher in Afrika, Handel: Vor dem EU-Afrika-Gipfel am 18. Dezember in Wien widmet sich die KURIER-Serie dem Thema umfassend mit vielen Aspekten.

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Gewerkschafter Joel Odigie, Dozentin Angela Akorsu (Universität Cape Coast, Ghana)

"Nicht Hilfe, sondern Fairness"

„Wir waren geschockt, dass sich Österreich aus dem Globalen UN-Pakt für Migration zurückzieht“, sagt Joel Odigie, Afrika-Repräsentant im Internationalen Gewerkschaftsbund. Und mit „wir“ sei nicht nur die afrikanische Delegation gemeint, sondern die „gesamte globale Zivilgesellschaft, die den Vertrag in New York verhandelt hatte“.

Schließlich sei Österreich durch die EU-Ratspräsidentschaft stark involviert gewesen, in allen sechs Verhandlungsrunden vom Entwurf bis zum finalen Dokument.

Der Vertrag wäre rechtlich ohnehin nicht bindend, hätte aber „eine moralische Verpflichtung für  alle Länder bedeutet,  Menschen ordentlich zu behandeln“, sagt Odigie.

Geldgeber-Debatte

Die EU selbst sei stolz darauf, der „größte Geldgeber in Afrika“ zu sein, sagte am Montag ein Kommissionsvertreter bei einer Debatte in Wien.  „Auch die EU verfehlt das UN-Ziel, 0,7 Prozent des BIP in die Entwicklungshilfe zu investieren“, kontert Odigie. Wobei diese ohnehin ein Auslaufmodell sei.

Das Ziel sollte eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, ohne Almosen und Ausbeutung, sein. „Wir wollen keine Hilfe, sondern eine faire Partnerschaft“, sagt Angela Akorsu von der  Uni Cape Coast (Ghana) im Wiener Institut VIDC.  Die vermisst sie bei den EU-Handelsverträgen, welche die lokale Wirtschaft  eher zerstörten als förderten. Von  zollfreien Exportchancen in die EU hätten Ghanas Bauern nämlich wenig: „Sie produzieren für den Konsum vor Ort.“

Der EU-Afrika-Gipfel am 18. Dezember in Wien soll nun neue Arten der Partnerschaft ausloten. Ist das Thema „Digitalisierung“ das, was Afrika am dringendsten braucht?

„Die Antwort ist offensichtlich, oder?“, sagt Odigie. Akorsu lacht. Und sagt dann, ernsthaft: „Für die meisten Menschen in Afrika zählt das Überleben. Wir haben nichts gegen die Digitalisierung, aber es ist eine Frage von Prioritäten.“

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