Auf der Suche nach Rezepten gegen Shein und Temu

Auf der Suche nach Rezepten gegen Shein und Temu
Chinesische Billiganbieter bringen heimische Händler in Bedrängnis. In der EU wurden erste Maßnahmen eingeleitet, um die Paketflut aus Fernost zu stoppen.

Mit Spottpreisen für T-Shirts, Schuhen und Haushaltsgeräten, hohen Rabatten und offensiver Werbung in Sozialen Medien haben die chinesischen Billiganbieter Shein und Temu in den vergangenen Jahren den Online-Handel in Österreich durcheinandergewirbelt. 41 Prozent oder 2,8 Millionen der österreichischen Konsumentinnen und Konsumenten haben laut einer Erhebung der Johannes Kepler Universität Linz (JKU) bereits bei Temu, Shein und Co. eingekauft. 

Das Institut für Handel, Absatz und Marketing der Linzer Universität schätzt, dass hierzulande im vergangenen Jahr rund eine Milliarde Euro auf den Plattformen ausgegeben wurde. Das seien immerhin ein Prozent der gesamten Einzelhandelsausgaben und elf Prozent der gesamten Online-Ausgaben der österreichischen Konsumentinnen und Konsumenten, sagt JKU-Handelsforscher Christoph Teller dem KURIER. Der rasante Aufstieg von Temu und Shein nötigt ihm durchaus Respekt ab: „Das dynamische Wachstum sucht seinesgleichen.“

Lange Liste an Vorwürfen

Die Erfolgsgeschichte dürfte aber mehr als nur einige Schönheitsfehler aufweisen. Die Liste der Vorwürfe gegen die chinesischen Billiganbieter ist lang. Sie reicht von giftigen Chemikalien in zahlreichen Produkten, Verstößen gegen EU-Sicherheitsstandards und fragwürdigen Arbeitsbedingungen bei den Herstellern bis hin zu falsch deklarierten Waren. Auch bei Abgaben für die Entsorgung von Verpackungen oder Elektroaltgeräten beteiligen sich die Anbieter nicht. 

Viele der Vorwürfe stellen Temu und Shein in Abrede. Bei einigen schieben sie die Verantwortung auf die auf ihren Plattformen verkaufenden Händler, etwa bei den Entsorgunsabgaben. Dass es dabei zu Versäumnissen kommt, liegt nach Meinung von Beobachtern auch am bürokratischen Aufwand in Österreich. Anders als in allen anderen EU-Ländern ist für die Registrierung bei einem Entsorger ein Notariatsakt notwendig. Ein Aufwand, den sich viele Händler aus Fernost nicht antun wollen. 

Shein und Temu würden sehr „einseitig dargestellt“, sagt Handelsforscher Teller. „Sie halten sich aber sicher nicht bei allem, was sie tun, an die Regeln (Stichwort: Produktsicherheit). Sie spielen nicht das Spiel, sie spielen mit den Spielregeln, milde ausgedrückt.“

Zollfreigrenze fällt

In der EU will man die Paketflut aus Fernost jetzt zumindest drosseln und hat vor kurzem die Abschaffung der Zollfreigrenze von 150 Euro für Produkte aus Drittländern beschlossen. Auch weil der Vorwurf im Raum steht, dass Pakete von den Anbietern auf mehrere Sendungen aufgeteilt oder falsch deklariert werden, um den Zoll zu umgehen. 

Ob die Zölle, die etwa bei Kleidung 12 Prozent betragen, tatsächlich ausreichen, um die Zahl deutlich zu reduzieren, ist fraglich. Laut einer im Anfang November durchgeführten Umfrage der JKU Linz würden wegen der Zölle immerhin 19 Prozent der Online-Shopper in Österreich nicht mehr bei Plattformen aus Fernost einkaufen. 29 Prozent würden trotzdem bestellen und 52 Prozent würden Preise genauer vergleichen und dann beim billigsten Anbieter einkaufen. Die Abschaffung der Zollfreigrenze sei wirksam, sagt Teller. Die Frage sei aber, in welchem Ausmaß.

Ein Mann mit Anzug und Krawatte blickt in die Kamera.

Handelsforscher Christoph Teller von der JKU Linz.

Chinesische Plattformen werden reagieren

Denn die chinesischen Anbieter werden die Neuregelung nicht ohne Reaktion über sich ergehen lassen. Dafür sei ihnen der europäische Markt zu wichtig, sagt Teller. Möglich sei etwa, dass sie die Distributionsstruktur in der EU ausweiten oder dass sie die Preiserhöhungen durch die Zölle selbst schlucken werden. Sie könnten aber auch die höheren Kosten durch Zollgebühren an die Lieferanten weitergeben. Teller: „Einer zahlt die Zeche in der Versorgungskette.

Marktmacht

Die Marktmacht dazu haben sowohl Temu als auch Shein. Temu ist ein Tochterunternehmen des chinesischen E-Commerce-Giganten PDD Holdings (Jahresumsatz 2024 knapp 53 Milliarden Euro), der in China den Marktplatz Pinduoduo betreibt. Shein ist in China – von Logistikzentren in einigen Städten abgesehen – gar nicht präsent, hat sich aber durch die rasante Expansion in den vergangenen Jahren am Weltmarkt etabliert. 2024 erwirtschaftete der Fast-Fashion-Anbieter einen Umsatz von kolportierten 38 Milliarden Dollar (32,6 Milliarden Euro)

Auch im stationären Handel will man Fuß fassen. In Paris sorgte die Eröffnung einer Filiale im Traditionskaufhaus BHV Marais zuletzt für einen gehörigen Wirbel.  In den USA, wo nicht nur Zollfreigrenzen fielen, sondern exorbitante Zölle die Fast Fashion aus China verteuerten, war der Erfolg überschaubar. Nach einem kurzzeitigen Umsatzrückgang legten die Verkäufe der Billiganbieter aus Fernost zuletzt wieder zu, wie Analysen von Zahlungsdaten des deutschen Handelsblatts zeigen. Auch weil sie zunehmend Logistikinfrastruktur in Nordamerika aufgebaut haben. 

Red Note

Die App Red Note ist bei chinesischen Jugendliche gerade sehr beliebt.

„Andere Realitäten“

Hat nicht auch der Handel Fehler gemacht? Das könne man nicht pauschal sagen, meint Handelsforscher Teller. Natürlich gebe es – wie in jeder Branche – Anbieter, die nicht das erwartete Service bieten und Konsumenten in die Arme der Plattformen treiben. Handelsunternehmen in Österreich seien aber mit anderen Realitäten konfrontiert: Etwa hohen Personal-, Energiekosten und engmaschigen rechtlichen Regularien. Gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, sei schwierig, aber ein Gebot der Stunde.

Was können heimische Händler von den Plattformen aus Fernost lernen? Im Detail gebe es viele Dinge, die man sich abschauen könnte. Eine Blaupause aus China über Europa zu stülpen, werde aber nicht funktionieren, weil die Bedingungen ganz andere seien, gibt Teller zu bedenken.

Der Online-Handelsplatzhirsch Amazon hat sich die Konkurrenz aus Fernost bisher jedenfalls erfolgreich vom Leib gehalten. Dazu habe die über Jahrzehnte etablierte „kompromisslose Kunden- und Serviceorientierung“ des US-Anbieters beigetragen, die von der Bestellung bis zum Beschwerdewesen reiche, sagt Teller. Er spricht von einer „Blaupause für den Handel des 21. Jahrhunderts“.

„Nicht imitierbar“

Vorteile habe Amazon auch durch umfassende Logistiklösungen und das Lieferkettenmanagement. Amazon verfüge über die Fähigkeit, das richtige Produkt in der richtigen Zeitspanne zum Kunden zu bringen und bei Bedarf auch wieder zurücknehmen zu können, sagt Teller: „Diese Vorteile sind durch die asiatische Konkurrenz nur schwer imitierbar.“ 

Auch Amazons Geschäftspraktiken standen lange in der Kritik. Der Konzern habe sich aber vom „Gottseibeiuns“ zur Institution gewandelt. Vom Marktplatz des US-Einzelhandelsriesen profitiere heute auch der österreichische Handel – auch kleine und mittlere Händler, die über den Amazon Marktplatz verkaufen, sagt Teller. Unter welchen Bedingungen, sei eine andere Diskussion.

„Umdenken notwendig“

Um den Lauf von Temu, Shein und anderen Billiganbietern aus Fernost zu stoppen, reiche die Abschaffung der Zollfreigrenze jedenfalls nicht aus. Weitere Maßnahmen müssten folgen. Notwendig sei ein Umdenken der Konsumentinnen und Konsumenten. Nicht nur der Preis, sondern auch der Wert, Produktsicherheit, Umwelt und Nachhaltigkeit müssten bei Kaufentscheidungen in den Vordergrund rücken.

Ist das nicht ein frommer Wunsch? „Ja, sehr fromm“, meint Teller. Aber wenn das nicht gelinge, gehe immer mehr von der europäischen und österreichischen Handelskultur verloren, die über Jahrhunderte aufgebaut wurde. Letztlich würden die Konsumenten mit ihrem Geld und ihren „Füßen“ darüber abstimmen. Er warnt davor, dass es heimischen Online-Shops ähnlich gehen könnte wie Nahversorgern auf dem Land, die weitgehend aus den Ortsbildern verschwunden sind: „Die Konsumenten haben nicht mehr bei ihnen eingekauft, jetzt bekommen sie, was sie gewählt haben.“

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