Ökonom Sinn: Athen erhielt 36-mal den „Marshall-Plan“

Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner ifo-Instituts, bei einer Veranstaltung der Agenda Austria
Plädoyer für "Grexit": Rettungspolitik ist gescheitert, Rückkehr zur Drachme ermöglicht Erholung.

Warum haben Premier Alexis Tsipras und Finanzminister Yanis Varoufakis monatelang verhandelt, um sich dann doch überraschend in ein Referendum zu flüchten? Der wirtschaftsliberale deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn ("Die griechische Tragödie", 38 Seiten PDF) vermutet dahinter Kalkül: „Ja, das sind schon Marxisten; aber ich halte Varoufakis nicht für so ideologisch verbohrt, wie vielfach dargestellt, sondern für ziemlich rational.“

An dessen Stelle würde er ebenfalls die Schulden streichen und aus der Eurozone austreten, sagte der Ifo-Chef nach einem Vortrag bei Agenda Austria. Das wolle aber die Bevölkerung nicht, deshalb könne er das nicht offen sagen: „Er muss Emotionen schüren: ,Der böse Schäuble, der böse Juncker, die haben uns rausgestoßen‘. Dann stehen die Griechen Schulter an Schulter und überstehen dieses schreckliche erste Jahr nach dem Austritt.“

Die Rückkehr zur Drachme und deren Abwertung würde rasch den Aufschwung Griechenlands ermöglichen, glaubt Sinn: „Wenn es dann gut wird und er hat politisch überlebt, dann ist er der große Held.“ Anders sei es gar nicht möglich, dass das wirtschaftlich darniederliegende Land seine Wettbewerbsfähigkeit wiedergewinne. Nach etwa 10 Jahren Erholung sollte Griechenland die Option auf eine Wiederannäherung an den Euro eingeräumt werden.

Grexit-Startpaket

Taktik ortet Sinn auch hinter der monatelangen Verzögerung. Womöglich sei die Zeit von der griechischen Regierung genutzt worden, um im Geheimen Drachmen zu drucken. Jedenfalls hätten die Griechen in dieser Zeit große Euro-Vermögen im Ausland in Sicherheit gebracht – auf Kosten der Europäischen Zentralbank. Damit habe sich Griechenland eine "verbesserte Erstausstattung für den Grexit" verschafft.

Die Rettungspolitik hält der deutsche Starökonom für gescheitert. Alles in allem hätten die Griechen von öffentlichen Institutionen (auf Kosten und Risiko der Steuerzahler) 332 Milliarden Euro Hilfskredite erhalten.

Das seien 185 Prozent der griechischen Wirtschaftsleistung oder das 36-Fache dessen, was Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg über den „Marshallplan“ der USA erhalten habe – das Geld floss damals für humanitäre Zwecke und den Wiederaufbau und entsprach 5,2 Prozent des deutschen BIP (1952).

Dass im Falle Griechenland zu 90 Prozent ausländische Banken gerettet worden seien, stimme nicht, sagte Sinn: Das treffe für ein Drittel des Geldes zu, ein weiteres Drittel sei von reichen Griechen außer Landes gebracht worden und ein Drittel habe den griechischen Lebensstandard finanziert.

Austeritäts-Lüge

Die Darstellung, dass Griechenland der harte Sparkurs von der Troika der Geldgeber auferlegt wurde, sei freilich eine völlige Verdrehung der Wirklichkeit: "Das war nicht die Troika, das waren die Märkte. Griechenland erhält schon seit 2008 kein Geld mehr."

Sinn sagt, er habe es von Anfang an für einen Fehler gehalten, den Griechen Hilfskredite unter Auflagen zu gewähren: "Solche Schuldverhältnisse bringen nur die Völker Europas gegeneinander auf." Es wäre aus seiner Sicht sogar besser gewesen, wenn Deutschland als humanitäre Leistung den Griechen einfach Geld geschenkt hätte. Der Finanzkollaps wäre ohne die Dauerstützung fünf Jahre früher erfolgt, aber es hätte sich nicht der ganze Hass gegen andere Staaten gerichtet.

"Die Steuern hol' ich mir doch"

„Griechen schulden insgesamt 76 Milliarden Euro an Steuern, die hol’ ich mir als Staat doch.“ Raiffeisen-Chefanalyst Peter Brezinschek versteht nicht, warum Athen nicht mehr Dampf gemacht hat. Griechenland hätte sich auch nicht darum gekümmert, dass Auslandsguthaben besteuert werden. Und auch die Wirtschaftsstruktur wurde nicht modernisiert. Ein Beispiel, woran es mangelt: In den vergangenen zehn Jahren wurden rund 1400 Patente angemeldet – in Deutschland 300.000.

Außenhandel

Erste Auswirkungen der Krise spüren heimische Firmen. Der Vorarlberger Seilbahnbauer Doppelmayr bangt um den Weiterbau eines Projektes im Wintersportgebiet Parnassos. Von rund 1000 österreichischen Firmen, die in Griechenland aktiv sind, haben etwa 100 eigene Niederlassungen. Ganz aus dem Markt zurückziehen will sich derzeit niemand.

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