20.000 Euro für jeden jungen Menschen
KURIER: Sie haben kürzlich gesagt, dass die soziale Ungleichheit in Europa ein Ausmaß angenommen hat, das schon konkreten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schaden anrichtet. Haben Sie ein konkretes Beispiel dafür?
Marcel Fratzscher: Ja, die Armutsrisikoquote, also die Menschen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland haben. Anfang der 2000er-Jahre war diese Quote bei zehn Prozent, jetzt ist sie bei 16 bis 17 Prozent. Das heißt, dass praktisch jeder Siebente in Deutschland von Armut gefährdet ist.
Wie definieren Sie diese Armutsgefährdung?
Es geht nicht darum, ein Dach über dem Kopf zu haben. Es geht um die soziale und wirtschaftliche Teilhabe, also ins Theater gehen, auf ein Eis gehen, durch Reisen neue Horizonte entdecken, zum Kindergeburtstag ein Geschenk mitbringen.
Wäre bei weniger Armutsgefährdung die Wahl in Deutschland anders ausgegangen?
Natürlich. Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen und mit der Politik unzufrieden sind, wählen extreme Parteien. Wir Menschen sind Gesellschaftswesen, wir vergleichen uns. Und da haben viele Ängste davor, marginalisiert zu werden.
Sind die Ängste bei Rekordbeschäftigung nicht übertrieben?
Heute sind prekäre Arbeitsverhältnisse gang und gäbe. Fast jeder Vierte in Deutschland ist in atypischer Beschäftigung.
Hat der Mindestlohn in Deutschland da geholfen?
Schon. Vor der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 haben vier Millionen weniger verdient als den heutigen Mindestlohn. Aber 8,84 Euro pro Stunde sind nicht viel.
Sollte der Mindestlohn angehoben werden?
Ich halte Tarifverträge für die viel bessere Option. In Deutschland sind nur ein bisschen mehr als 50 Prozent der Jobs durch Tarifverträge gedeckt. So haben auch Institutionen Schuld an der Ungleichheit.
Sie sagen, dass das Einkommen zur Hälfte vom Bildungsgrad und dem Einkommen der Eltern abhängt. Wie ist dieser Teufelskreis zu durchbrechen?
Durch Bildungschancen. Die frühkindliche Bildung ist noch nicht genug. Ich muss auch loben, jetzt haben wir ein Anrecht auf einen Kindertagesstätten-Platz. Aber es fehlen immer noch 300.000 Plätze. Die Bildungsmobilität ist sehr gering. Das heißt, dass nur jeder vierte Deutsche einen besseren Abschluss als die Eltern schafft.
In Berlin wird es nicht anders sein als in Wien: In vielen Klassen sitzen Kinder aus vielen unterschiedlichen Nationen. Wo kann man da für Chancengleichheit sorgen?
Es gibt viel zu wenige Ganztagsschulen, das Schulsystem ist viel zu undurchlässig. Wer in der Hauptschule landet, hat wenige Chancen. Das Gießkannen-Prinzip ist irrsinnig. Für jedes Kind sollte soviel Geld zur Verfügung stehen, damit es die gleichen Chancen hat, seine Fähigkeiten zu entwickeln. Außerdem brauchen wir ein an Resultaten orientiertes Bildungssystem. Es gibt aber keine Vergleiche.
Also viel mehr Geld für das Bildungssystem?
Jetzt ist die Bildung Ländersache. Arme Kommunen haben kein Geld. Da müsste ich schon übersiedeln, wenn ich bessere Schulen will. Wir brauchen einheitliche Standards im Bildungssystem für das ganze Land. Und das Image der Mitarbeiter im Bildungssystem muss eindeutig verbessert werden. Man kann auch darüber streiten, ob eine Kita-Kraft so viel weniger verdienen soll als ein Lehrer. Wo doch die frühkindliche Bildung so wichtig ist. Jeder dort investierte Euro zahlt sich mehrfach aus.
Würden Sie für Vermögenssteuern plädieren, um ein besseres Bildungssystem zu finanzieren?
Nein, Deutschland und Österreich haben einen starken Sozialstaat. Der Staat muss nur seinen Job besser machen.
Wo zum Beispiel?
Das Ehegatten-Splitting (gemeinsame steuerliche Veranlagung von Ehe- und Lebenspartnern, Anm.) zum Beispiel müsste man eigentlich begrenzen. Das kostet unheimlich viel Geld, hilft aber denen wenig, die es wirklich brauchen.
Bei Diskussionen über das Ausgleichen von Chancen wird oft auch ein bedingungsloses Grundeinkommen angeführt. Was halten Sie davon?
Das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Da stiehlt sich der Staat aus seiner Verantwortung. Sie können Chancengleichheit nicht mit Geld kaufen. Deshalb sind auch nicht mehr Kitas oder mehr Sprachförderungen da. Außerdem haben wir mit Hartz IV ein Grundeinkommen.
Das allerdings nicht bedingungslos ist, weil sich Betroffene ja regelmäßig melden müssen . . .
Diese Leute brauchen vor allem mehr Hilfe. Da geht es um Motivation, Qualifizierung, Chancen-Erkennung. Da halte ich ein bedingungsloses Grundeinkommen für die schlechtest mögliche Lösung. Ich wäre für ein Lebenschancen-Budget.
Wie würde so ein Budget ausschauen?
Ich würde als Staat für jeden jungen Menschen, der einen Bildungsabschluss gemacht hat, ein Konto mit 20.000 Euro Guthaben einrichten. Damit könnten sich die jungen Leute selbstständig machen, es für die Fortbildung nutzen oder für später – für die Pflege von Angehörigen oder fürs Alter – sparen.
Also nicht für ein Auto oder einen Urlaub?
Eine gewisse Zweckbindung sollte schon sein. Mit so einem Konto würde sich der Staat nicht aus seiner Verantwortung stehlen, sondern den Menschen mehr Freiheiten geben.
Wie hoch wäre dieses Lebenschancen-Budget pro Jahr?
Das wären zehn bis zwölf Milliarden Euro pro Jahr.
Hätten auch Flüchtlinge ein Anrecht darauf?
Mit Bleiberecht und Bildungsabschluss, ja.
Wäre die Wahl anders ausgegangen, hätte es dieses Konto schon gegeben?
Es wären viele betroffen, die zur AfD gegangen sind. Man muss die Probleme wirklich ernst nehmen. Man muss sich um die Zukunftsängste und die Abgehängten kümmern.
Zur Person: Marcel Fratzscher
Der 46-Jährige ist einer der Top-Ökonomen Deutschlands. Er ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und Professor für Makroökonomie und Finanzen an der Humboldt-Universität Berlin. In der Vorwoche wurde Fratzscher in Wien vom Renner-Institut und dem SPÖ-Klub mit dem Kurt-Rothschild-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet.
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