Nie wieder Tierversuche? Wie die Maus ersetzt werden kann
Die Meldung sorgte für Jubel bei Tierschützern und Sorgenfalten in der Pharmaindustrie: Seit Jahresanfang sind in den USA für die Zulassung eines neuen Medikaments Tierversuche nicht mehr zwingend vorgeschrieben. Es obliegt ab sofort den Pharmaherstellern, ob sie neue Wirkstoffe und Therapien zunächst am Tier erproben oder neue, alternative Methoden dafür einsetzen.
„Wir waren einigermaßen überrascht, der Schritt war wohl politisch bedingt, schließlich handelte es sich um ein Wahlversprechen von US-Präsident Joe Biden“, sagt eine Expertin für Tierversuche aus der heimischen Pharmabranche zum KURIER. In der EU ist man noch nicht so weit. Es gibt zwar seit 2010 das langfristige Ziel, Tierversuche irgendwann ganz zu ersetzen, die Europäische Arzneimittelbehörde EMA verlangt sie aber weiterhin als Zulassungsvoraussetzung für jedes neue Medikament.
Risikoabwälzung
Allein aus Risikogründen wird die Pharmaindustrie nicht so rasch vom Tier abrücken. „Wir werden kein Medikament in die klinische Forschung bringen, wenn wir uns nicht absolut sicher sind, dass es auch verträglich ist. Wir wollen doch nicht, dass ein Patient stirbt“, sagt die Expertin. So lange Alternativmethoden die Vorhersagbarkeit der Wirksamkeit nicht sicherstellen können, werde nicht auf Tiere verzichtet.
So werden in Österreich auch weiterhin Tausende Mäuse, Ratten und Zebrafische in Labors eingesetzt. Deren Anzahl ist zuletzt (2021) leicht auf 218.000 gestiegen, 76 Prozent davon sind Mäuse (siehe Grafik). Der Großteil der Tierversuche findet in der Grundlagenforschung statt.
Diese Zahl könnte aber schon jetzt deutlich verringert werden, sind sich Forscher einig, die an Alternativmethoden arbeiten. Große Fortschritte gibt es etwa bei künstlich hergestellten Organen, so genannten Organoiden, Computersimulationen und bildgebenden Verfahren.
Biochips
So lassen sich Versuche etwa mit Lungen- oder Darmgewebe auf speziellen Biochips (Organ-on-a-Chip) vornehmen. Künftig könnte sogar ein ganzer menschlicher Organismus – „Human on a Chip“ – realisiert werden, also Zellsysteme aus verschiedenen Organen, die verbunden sind. Damit ließen sich beispielsweise Nebenwirkungen neuer Medikamente frühzeitig erkennen. Für den ganzheitlichen Blick ist derzeit noch ein lebendes Tier nötig.
Eine, die bereits mit Alternativen arbeitet, ist Doris Wilflingseder am Institut für Hygiene und Medizinische Mikrobiologie der Medizin Uni Innsbruck. Sie verwendet 3D-Gewebemodelle zur Aufklärung von überschießenden Entzündungsvorgängen, insbesondere nach einer Corona-Infektion. „Ich bin überzeugt, dass uns gute menschliche Zellkulturmodelle bei der Erforschung menschlicher Krankheitserreger wie HIV-1 oder SARS-CoV-2 besser voranbringen als Experimente in Tiermodellen“, betont die Forscherin, die im Vorjahr den Staatspreis zur Förderung von Ersatzmethoden zum Tierversuch erhielt.
Hilfreich wäre aus ihrer Sicht ein langfristiger, verbindlicher Plan der EU für ein Tierversuchs-Aus. Ebenso ausgezeichnet wurde Peter Ertl von der TU Wien, der an der Weiterentwicklung des Biochips arbeitet. Siehe eigenes Interview hier
Pharmahersteller nutzen ebenfalls bereits Organoide, wenn auch erst in Nischen. Von einer echten Alternative zum Tier sei man noch weit entfernt, heißt es. „Es fehlen die Interaktionen, also etwa hormonelle Reaktionen auf einen Wirkstoff und auch ein Vergleich, was ein Organoid besser kann als der Tierversuch“, so die Branchen-Expertin. Nachgebildet könne auch nur werden, was schon bekannt ist, es gehe aber vor allem um das Unberechenbare.
Das Tierversuchsgesetz 2012 (TVG 2012) definiert einen Tierversuch als „jede Verwendung von Tieren zu Versuchs-, Ausbildungs- oder anderen wissenschaftlichen Zwecken […], die bei den Tieren Schmerzen, Leiden, Ängste oder dauerhafte Schäden […] verursachen kann“. Ein Tierversuch liegt bereits dann vor, wenn die Beeinträchtigungen, die den Tieren voraussichtlich zugefügt werden, zumindest jener Belastung entsprechen, die durch einen Kanüleneinstich (Nadeleinstich) verursacht werden.
Nur nach vorheriger Genehmigung zu bestimmten, im Gesetz angeführten Zwecken. Dazu zählen insbesondere die Grundlagenforschung, die angewandte Forschung (Human- und Veterinärmedizin) sowie die Prüfung von Arzneimitteln oder Chemikalien. Tierversuche zur Testung von Kosmetika sind verboten.
115 Millionen Tiere
werden weltweit jährlich in Tierversuchen getötet. Schätzungsweise weitere 4 Millionen kommen ums Leben, weil sie zwar gezüchtet wurden, aber für Versuche nicht geeignet waren. EU-weit werden jährlich rund 10 Millionen Versuchstiere verwendet, in Österreich waren es zuletzt 218.000
80 Millionen Tiere
werden in Österreich jährlich für den Fleischverbrauch geschlachtet. 739.000 Wildtiere wurden in der Jagdsaison 2021/22 abgeschossen.
10 Ersatzmethoden
zu Tierversuchen sind in der EU behördlich zugelassen
Tierschützer-Kritik
Den Tierschützern geht die Umstellung auf Ersatzmethoden zu langsam. „Das EU-Ziel, Tierversuche gänzlich zu vermeiden, wird nur unzureichend verfolgt“, kritisiert Martin Balluch, Obmann vom Verein gegen Tierfabriken (VGT). Wie sonst könne es sein, dass enorme Investitionen in die Neuerrichtung von Tierversuchslaboratorien fließen, aber nur ein Bruchteil in den Ausbau von Alternativmethoden. Verbesserungen fordert der VGT auch bei der Genehmigung von Tierversuchsanträgen, wo eine gewissenhafte Schaden-Nutzen-Analyse im Sinne der Prüfung von Alternativen nach wie vor fehle.
Kaninchen-Streit
Um Verunreinigungen von Arzneimitteln mit fieberauslösenden Stoffen zu erkennen, wurden bis vor wenigen Jahren auch in Österreich jährlich rund 15.000 Kaninchen als Versuchstiere eingesetzt, obwohl es bereits tierfreie Alternativen zum sogenannten Pyrogentest gibt. Laut VGT finden diese Tierversuche aktuell zwar nicht mehr statt, doch tobt ein Rechtsstreit über die grundsätzliche Einsatzmöglichkeit. Die Causa liegt beim Höchstgericht.
Abseits der Pharmabranche geht die Substitution rascher. So werden bei der Entwicklung von Kosmetika Alternativen schon häufig verwendet – Tierversuche sind in der EU dort seit 2013 verboten. Und auch bei der Prüfung von Lebensmittelsicherheit setzt ein Umdenken ein. So erwägt die EU-Lebensmittelbehörde EFSA, Alternativmodelle in die Beurteilungen mitaufzunehmen.
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