Merkel - die mächtigste Frau der Welt

Die deutsche Kanzlerin rettete den EU-Gipfel fast im Alleingang. Und bewies mit geschickter Tatkraft ihren oft angezweifelten Willen zu Europa.

Vier Uhr Früh in Brüssel, Merkel vor der Presse im blauen Samtblazer, fröhlicher und wacher als ihre Regierungschef-Kollegen und die Journalisten vor ihr. Ganz kurz zeigt sie ihr spitzbübisches Lächeln: Das Gefühl des Triumphs. Ein seltener Moment. Dann ist sie wieder sachlich.

Der Mittwoch war Höhe- und Endpunkt einer der schwierigsten Wochen ihrer sechsjährigen Amtszeit. Bis zum finalen Handschlag waren noch mehr taktisches Geschick und Durchsetzungswillen des Stärksten gefragt als üblich: "Wir haben unser Angebot vorgetragen. Angstfrei. Ein anderes gab's nicht", schilderte "Madame Europe" danach kühl ihren Druck auf die Gläubiger-Banken, den "Haircut", den 50-Prozent-Schuldenschnitt auf Griechen-Anleihen, zuzulassen.
Deren Kapitulationspapier zwei Stunden später begann so: "Sehr geehrte Frau Kanzlerin Merkel, sehr geehrter Herr Präsident Sarkozy, sehr geehrte Regierungschefs!" Stolz lancierte Merkels Team dieses Dokument der informellen EU-Rangordnung im Journalisten-Volk.

Nervenstark

Die Krise war wie gemacht für die eisernen Nerven der Kanzlerin, die Materie die komplexeste bisher. Anfangs hatte sie fast alle gegen sich: Zu viele Euro-Skeptiker der eigenen Koalition, die Opposition sowieso, viele EU- Länderchefs unter Führung des Franzosen Sarkozy, die angelsächsischen Europa-Kritiker und Märkte, vor allem aber: die Mehrheit der eigenen Steuerzahler. Die meisten überzeugte sie in dieser Woche. Zuletzt im abgewetzten Jackett wie dem von Wilhelm Buschs strengem Lehrer Lämpel.

Der Weg zum zumindest momentan großen Erfolg war nicht so direkt, wie es aussah. Denn ein "System Merkel" gibt es nicht oder nur insofern, als es in ihrer Persönlichkeit angelegt ist - und inzwischen großen Erfahrungen an der Spitze. Auch nach sechs Jahren Kanzlerin und elf Jahren als CDU-Chefin gibt es in Berlin nur wenige seriöse Insider, die sich zu sagen trauen, wie Angela Merkel wirklich tickt. Denn sie öffnet sich den Journalisten so wenig wie unautorisierten Biografen.

Sie tut es nach stressigen Tagen bei einer Flasche sehr guten Weins in ihrem Arbeitszimmer im siebten Stock des Kanzleramts mit Vertrauten. Da soll sie sehr locker sein können, witzig und ein Ass im Imitieren ihrer EU-Kollegen. Doch diese Momente kennen nur ganz wenige: Ihr Kreis Vertrauter und sehr guter Freunde ist noch kleiner als der anderer Spitzenleute. Nicht nur, weil eine Kanzlerin kaum Zeit hat. Und Freund bleibt nur, wer extrem diskret ist.

Das bruchstückhafte Mosaik zeigt das sehr untypische Bild eines deutschen Politikers: Merkel scheint die Intellektuellste von allen zu sein und am meisten in sich zu ruhen. Klar ist: Ihre Biografie als Ostdeutsche prägt sie bis heute. Vor allem gelebter Freiheitswille und strikte Selbstdisziplin.

Unter diesen Prämissen ist dann aber auch fast alles möglich und weniger grundsätzlich als bei vielen ihrer Politiker-Generation. Den Pragmatismus und die Flexibilität im Alltagsleben, die man in einer Diktatur braucht, um nicht unterzugehen als Held oder Heiliger, hat sich die Ostdeutsche auch als Kanzlerin bewahrt.

Beides befähigt sie zu strategischen Totalwenden wie von der prononciert liberalen Union während Rot-Grün hin zur linken Mitte nach deren Ablöse oder zum mehr taktischen Anti-Atomschwenk nach dem Nuklearunfall im japanischen Fukushima. Ein striktes Nein gibt es nur bei Unehrlichkeit - und auch nur geringsten antisemitischen Tönen.

Misstrauisch

Was sie - so ihre enge Umgebung - aber auch aus 35 Jahren als politischer Outsider in der DDR mitnahm, sei Misstrauen allen gegenüber, die sie nicht lange kennt. Das erzeuge Kommunikationsschwächen, die sich als Fehlentscheidungen auswirken: So eine schlechte Hand bei der Auswahl wichtigster Mitarbeiter und Spitzenleute, auch nationaler und internationaler, war selten in Deutschland.

Kombiniert mit ihrem legendären taktischen Abwarten - Kritiker nennen es Zaudern - führt das zu Kettenreaktionen, die in irritierenden Rücktritten vom deutschen Staatsoberhaupt Horst Köhler abwärts enden können. Viele dieser Persönlichkeiten resignieren an ihrem nur sehr partiellen Treue-Vermögen.

Dem steht wieder ihr Ruf als Denkerin entgegen, als kühle Naturwissenschaftlerin: Geht, geht nicht, geht doch, aber anders. Ob Merkel wirklich immer vom Ziel her denkt, wie das ihre verschworenen PR-Beraterinnen schon streuten, als sie noch als CDU-Zwischenlösung in Berlin galt, ist schwer nachvollziehbar. Nicht alle, die länger mit ihr am Besprechungstisch saßen, wollen das bestätigen. Es klingt aber gut, wenn die promovierte Physikerin Dinge systematischer als alle anderen angeht, kühler eben.

Unbestritten ist, dass ihre direkten Vorgänger, Schröder und Kohl, viel mehr Bauch-Politiker waren, als sie es ist, so unterschiedlich beide sind. Das gilt auch für die Vorwürfe Kohls, sie gefährde "sein" Europa. Sie widerlegt das eben durch Taten.
Und doch gibt es Anzeichen für seltene Ratlosigkeit im System Merkel - an extrem kritischen Tagen wie dem vor Brüssel: Dann soll sie sich im Dienstwagen ziellos durch die Hauptstadt fahren lassen. Aber vielleicht tut sie es auch nur, um Telefonate mit Regierungschefs dringlicher wirken zu lassen.

Unprätentiös

Unzweifelhaft ist auch das Motiv, warum diese Frau, die in Äußerem und Sprache so unprätentiös wie kein anderer in Europa regiert, dieses Amt eroberte und es so lange hält: Wie bei allen in dieser stratosphärischen Höhe treibt sie die Lust an der Macht an, die süchtig machende, bei ihr wohl auch intellektuelle maximale Selbstbestätigung. Es ist das berauschende Gefühl, Dinge verändern und mit ihnen Menschen mehr beeinflussen zu können als jeder sonst in Europa.

In der üblichen Sommer-Pressekonferenz heuer gab sie es zu, trotz der ziemlich schlechten innenpolitischen Bilanz: "Es macht noch viel Spaß", sagte sie mit dem mädchenhaftesten Lächeln der deutschen Politik.
Die letzte Krisenwoche hat das eindrucksvoll bewiesen. Die nächste kommt sehr bald.

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