Lockdown in Schanghai für Schifffahrt schlimmer als Ukraine-Krieg
Laut dem Schifffahrtsexperten und Repräsentanten des Hamburger Hafens in Wien, Alexander M. Till, ist der Lockdown in Schanghai und der seit Mitte April stark eingeschränkte Umschlag am dortigen Hafen der dramatischste Einschnitt für die Frachtschifffahrt seit Beginn der Corona-Pandemie.
KURIER: Wegen des Lockdowns warten Hunderte Schiffe auf die Abfertigung. Was heißt das für Europa?
Alexander M. Till: Der Hafen von Schanghai ist der größte der Welt. Derzeit können dort 60 Prozent weniger Container abgefertigt werden als sonst. Pro Woche sind es normal fast eine Million Container, das heißt in den vergangenen zwei Wochen sind 1,2 Millionen Container im Hafen stehen geblieben. Wenn man diese aneinanderreihen würde, ergäbe das eine Strecke von Wien bis New York.
Kommen noch Schiffe aus anderen Häfen planmäßig nach Europa?
Auch Schiffe, die aus anderen Häfen Richtung Europa auslaufen, steuern auf ihrer Fahrt den Hafen von Schanghai an und bleiben dann ebenfalls, statt zum Beispiel drei Tage, eineinhalb Wochen dort stehen. Das System kommt dadurch komplett aus dem Rhythmus.
Kommen solche Turbulenzen in der internationalen Frachtschifffahrt öfter vor?
Ich habe so etwas in 35 Jahren noch nicht erlebt. Und es hört nicht auf, es kommt ein Ausnahmeereignis nach dem anderen. Erst ein Lockdown nach dem anderen, dann der Stau im Hafen von Los Angeles, jetzt in Schanghai. Nochmals, es handelt sich hier um den größten Hafen der Welt. Die aktuelle Situation hat mehr Potenzial, die Lieferketten zu stören, als alle Covid-Lockdowns davor oder der Ukraine-Krieg. Da war die Ever Given (das Schiff blockierte im März 2021 sechs Tage lang den Suezkanal) nichts dagegen.
Wird es in Europa zu einer Verknappung von Waren kommen?
Wir sind noch in einer glücklichen Situation. Die Importeure haben so viel importiert wie noch nie, weil sie sich vor einer solchen Situation gefürchtet haben. Die Lager von Vorarlberg bis Wien sind knallvoll. Jetzt kommt es darauf an, wie lange die Situation in Schanghai anhält. In den nächsten zwei bis drei Wochen spüren wir nichts, ein Schiff ist fünf Wochen bis zu uns unterwegs. Aber in drei bis vier Wochen könnte es sein, dass wir deutlich weniger Waren aus Asien erhalten als jetzt.
Was alles ist betroffen?
Welche Produkte es erwischt, das weiß man noch nicht. Es kann hundert Container mit Sportschuhen für Österreich betreffen, dann können wir halt vor dem Sommer keine neuen Schuhe kaufen. Es können aber auch medizintechnische Geräte, Beleuchtung oder Gartenmöbel sein. Gartenmöbel kann man, wenn sie zu spät kommen, heuer dann gar nicht mehr verkaufen.
Sind Just-in-time-Lieferungen damit Geschichte?
Just-in-time wäre in der heutigen Zeit geradezu fahrlässig. 90 Prozent der Schiffe sind seit einem halben Jahr unpünktlich. Das wäre ein Hochrisikospiel. Viele wünschen sich die Zeit zurück, in der die Seefracht wie ein Uhrwerk funktionierte.
Wird das je wieder so sein?
In den kommenden Monaten nicht. Aber wenn diese ungewöhnlichen Ausnahmesituationen wieder aufhören, dann ja. Dann sogar relativ schnell.
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