Lehre – keine Bildung zweiten Grades

In Wien gehen nur 25 Prozent der Jungen in die duale Ausbildung – zu wenig, meint Christoph Leitl.
WKO-Boss Leitl ist kein Fan davon, dass "alle an die Universität rennen", und fordert ein Umdenken.

Wirtschaftskammerchef Christoph Leitl schreibt den Wienern in Sachen Lehre etwas „ins Stammbuch“ und verteidigt die Kammern.

KURIER: Bisher galt die Sozialpartnerschaft als Nebenregierung. Seit der Regierungsklausur sitzt sie mit am Tisch. Sind Kanzler und Vizekanzler Ihre Schoßhunde?

Christoph Leitl: Seltsame Frage. Wir wissen, dass Österreich vor riesigen Herausforderungen steht – in der Steuerpolitik, in der Standortpolitik, in der Bildung. Da muss ein kleines Land alle seine Kräfte bündeln. Ich war vor zwei Wochen in der Schweiz, und dort wird das hohe Lied der Sozialpartnerschaft gesungen. Nicht von irgendwelchen verschrobenen Leuten, sondern von den Freisinnigen.

Viele Länder kommen trotzdem ganz gut ohne Kammern aus.

Mancherorts gibt es keine oder andere Kammern, das mag eine spezifisch österreichische Ausprägung der Sozialpartnerschaft sein. Aber wir haben den gesetzlichen Auftrag, Interessensausgleich nach innen zu betreiben und mit einer Stimme nach außen zu sprechen. Daher ist das sinnvoll.

Kriegen Sie nicht Bauchweh, wenn der Bundeskanzler das ÖGB-Modell für eine Steuerreform 1:1 übernimmt?

Ich kann dem Bundeskanzler keine Vorschriften machen.

Kommt jetzt die Entfesselung der Wirtschaft? Immerhin hat sich in der ÖVP-Regierungsmannschaft die Waage vom Bauernbund wieder in Richtung Wirtschaftsbund geneigt.

Die Waage hat auch vorher nicht gegen die Wirtschaft ausgeschlagen.

Ist diese starke Verflechtung von Politik und Kammern wirklich gesund? Kritiker halten das für ein überkommenes ständisches System.

Ich wüsste nicht, was daran überkommen ist. Das eine ist die Interessenvertretung, das andere die politische Umsetzung. Und wenn beides ineinander greift, liegt da eine große Chance. Bisher hat die Sozialpartnerschaft bewiesen, dass sie diesem Land gut tut. Wenn man Unternehmen nach den Vorteilen des Standortes Österreich fragt, dann kommt immer: Sozialpartnerschaft, sozialer Friede, Zuverlässigkeit.

Auf der Negativliste stehen: Bürokratie, Reformunfähigkeit?

Lehre – keine Bildung zweiten Grades
Christoph Leitl: "Sie wären integriert."
Nein dort stehen hohe Lohnnebenkosen und eine hohe steuerliche Belastung, die das Leben in Österreich unattraktiv macht. Wir sind derzeit dabei, die Steuern und Lohnnebenkosten zu senken, die Trendwende ist eingeleitet. Das geht nicht in einem Riesenschritt, weil der soziale Folgewirkung hätte.

Aber fließt nicht ohnehin ein zu großer Teil der Wertschöpfung ins Sozialwesen?

Ja, es fließt ein großer Teil in das Sozialwesen. Man muss eben zuerst schauen, wo man sparen kann. Etwa im Pensionssystem. Wir sind Frühpensionskaiser. Warum arbeiten die Schweizer, die Schweden, die Deutschen länger?

Weil andere Koalitionen – wie seinerzeit Rot-Grün in Deutschland – bei Reformen an einem Strang zogen.

Rot-Grün hat tatsächlich eine erstaunliche Entwicklung eingeleitet, von der Deutschland bis heute zehrt. Davor galt Österreich als Vorbild für Deutschland, jetzt ist es wieder umgekehrt. Ich sehe jetzt aber die Chance, dass der Stillstand in der Regierung aufhört. Dafür spricht auch, dass die Sozialpartnerschaft bei der Regierungsklausur dabei war.

Was wird sich denn ändern?

Beispiel Bildungspolitik: Ab Beginn 2015 wünsche ich mir eine Begabungs- und Bildungsberatung für junge Menschen. Jeder soll die Chance haben, Matura und Lehre zu machen, egal, wo er startet.

Die Wirtschaftskammer ist der Gesamtschule nicht abgeneigt.

Wir sagen: Wenn Experten meinen, dass eine gemeinsame, aber in sich differenzierte Schule die Begabungen am besten fördert und Schwächen ausgleicht, dann ist das auch für uns denkbar. Schule soll wieder Lust und nicht nur Frust erzeugen. Wir sind immerhin gerade Berufs-Europameister geworden – und die Lehrlinge werden auch gemeinsam unterrichtet.

Es ist kein Zufall, dass die Goldmedaille ein Oberösterreicher geholt hat. In Wien äußern Lehrherrn öfter Unzufriedenheit mit den Schulabsolventen.

In Wien gehen nur 25 Prozent eines Geburtsjahrgangs in die duale Ausbildung, in Vorarlberg sind es 50 Prozent, in der Schweiz 70. Und die Schweiz hat eine tolle Ausbildung. Das schreibe ich den Wienern ins Stammbuch: Die Zeiten sind vorbei, wo das duale System eine Ausbildung zweiten Grades war.

Ein Plädoyer für die Lehre?

Lehre – keine Bildung zweiten Grades
Interview mit Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl
Ja. Es muss ein Umdenken geben. Weg davon: „Bist gscheit, dann gehst in die AHS.“ Ich sage: „Bist gscheiter, dann kombiniere einen Beruf mit einer zusätzlichen Ausbildung, die den Zugang zu höheren Bildungsangeboten öffnet.“ Wir haben 50 Prozent Studienabbrecher, weil alle an die Universität rennen! Nach der Matura könnte es eine verkürzte Lehre für manche Berufe geben. Zwei Drittel der Berufe könnten mit einem Intensivjahr auskommen.

Zurück zur Kammer: Warum braucht man eigentlich die Pflichtmitgliedschaft?

Für den Interessenausgleich brauche ich alle an Bord. Sonst könnte ja wer kommen und sagen: Mit uns ist nicht geredet worden. Gäbe es uns nicht, müsste der Staat zu höheren Kosten unsere Leistungen übernehmen – vom Betriebsgründungsservice über Weiterbildung bis zur Außenwirtschaftsorganisation, laut UNO die beste der Welt.

Wobei gerade die Ein-Personen-Unternehmen oft klagen, sie tragen einiges bei, ohne das Angebot so wie ein großes exportorientiertes Unternehmen nutzen zu können.

Von der Solidarität der Wirtschaftskammer profitieren gerade die EPUs, weil sie viel niedrigere Beiträge zahlen.

Und was sagen Sie Selbstständigen, die sich über hohe Sozialversicherungsbeiträge ärgern?

Die Sozialversicherung kostet auch Unselbstständige wahnsinnig viel. Es gäbe die gleiche Kritik, wenn sie merken würden, was ihnen abgezogen wird. Gerade für die Klein- und Kleinstbetriebe wurde sehr viel gemacht – etwa die Beiträge reduziert und die soziale Absicherung erhöht. Wir setzen auf Vorbeugung und halbieren dafür den Selbstbehalt. Da ist viel Kreatives geschehen.

Sie halten weiterhin wenig von den Wirtschaftssanktionen gegen Russland, oder?

Durch die Maßnahmen erleiden alle Beteiligten Schaden, Österreich sogar überproportional. Sie bewirken keine Verhaltensänderung, sondern eher Verhärtung. Wer glaubt, Putin würde jetzt reumütig umkehren, nur weil er es auch spürt, der kennt die russische Geschichte nicht. Mit den Russen muss man auf einer Vertrauensbasis zusammenkommen. Nur wenn das menschliche Element eine Rolle spielt, hat man eine Chance weiterzukommen.

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