Leben in Argentinien: Der Alltag mit 108 Prozent Inflation
Lionel Messi, Boca Juniors, Patagonien – und mehr als 100 Prozent Inflation. Wer an Argentinien denkt, denkt ziemlich sicher als Erstes an diese Punkte. Vor allem die Inflation beherrscht Monat für Monat die Schlagzeilen über Argentinien in internationalen Medien. Zuletzt ist sie im April auf hohe 108 Prozent gestiegen.
So dramatisch und chaotisch die Vorstellung klingt – immerhin machen den Österreicherinnen und Österreichern schon 10 Prozent Inflation ordentlich zu schaffen – so gering sind die Auswirkungen, die vor Ort tatsächlich zu spüren sind.
Kein Geld im Bankomat
Was auffällt: Geld beheben in Buenos Aires kann sich zur wahren Odyssee auswachsen – die Bankomaten sind nämlich den überwiegenden Teil der Zeit leer. Dafür stehen Touristen wie Einheimische vor Western Union-Filialen schlangen. Touristen erhalten den besseren Wechselkurs, wenn sie sich selbst Geld über Western Union schicken. Einheimische wechseln hier gern ihre Dollarnoten in die Landeswährung Pesos um. Denn die Bevölkerung ist resilient geworden, was den Umgang mit der Teuerung angeht.
„Die Menschen haben sich natürlich an diese Situation angepasst. Die Währung ist seit Jahrzehnten instabil“, erklärt Marco Garcia, österreichischer Wirtschaftsdelegierter in Argentinien, gegenüber dem KURIER. Die Nationalbank hat keine US-Dollarreserven mehr, im Gegenzug wird der Peso in rauen Mengen gedruckt. Um ein Gefühl dafür zu bekommen: 100 Euro entsprechen aktuell dem Wert von 25.000 argentinischen Pesos.
Zum Vergleich innerhalb Südamerikas: In Brasilien lag die Inflation im April bei rund 4 Prozent, in Uruguay bei 7,6 Prozent. Im politisch stark gebeutelten Venezuela kennt man aber ganz andere Inflationsraten: im April lag die bei 436 Prozent.
Wirksamstes Mittel zur Bekämpfung der Inflation ist schlicht, diese zu umgehen. Deswegen tauschen die Argentinierinnen und Argentinier wo nur möglich ihre Landeswährung Pesos in den wertstabilen Dollar um. Wer Wochen oder Monate später wieder in Pesos zurückwechselt, hat damit de facto keinen Wertverlust. Allerdings ist es mittlerweile wegen der geringen Dollarreserven schwierig, überhaupt an die begehrten Dollar zu kommen. Laut Schätzungen dürften die Argentinierinnen und Argentinier jedoch ein Dollarvermögen von rund 400 Milliarden Dollar horten – quasi unter dem Kopfpolster.
Logische Konsequenz: Der Schwarzmarkt boomt. Der inoffizielle Dollarkurs – der sogenannte Dollar blue – ist ungefähr doppelt so hoch wie der offizielle Kurs. „In Europa kann Ihnen niemand den aktuellen Dollarkurs nennen. In Argentinien kennt ihn jeder“, sagt Garcia. Begehrt ist nicht nur der Dollar, sondern auch der Euro, der in dem südamerikanischen Land natürlich viel rarer ist.
Die Zahlung per Kreditkarte ist ebenfalls ein Tool, mit dem zumindest die nicht armutsgefährdeten Menschen in Argentinien die Inflation austricksen. Essenziell ist dafür nur eine Kreditkarte, die auf Pesos läuft. „In Österreich spielt der Stichtag, an dem die Rechnung für die Zahlungen des letzten Monats gelegt wird, kaum eine Rolle. In Argentinien kennt jeder dieses Datum.“ Denn: Mehrere Wochen machen bei einer galoppierenden Inflation einiges aus. Weniger attraktiv ist hingegen die Ratenzahlung, die in vielen Geschäften, auch Supermärkten, standardmäßig bei der Zahlung mit Karte angeboten wird.
Das Problem dahinter ist wie bei allen Mikrokrediten: Die Unternehmen verlangen für diese Ratenzahlung zum Teil hohe Zinsen, und nur die Konsumentinnen und Konsumenten, die wenig Geld haben, greifen auf diese Art der Ratenzahlung sogar bei Lebensmitteln zurück. Eine untergeordnete Rolle dürfte bei der Inflationsbekämpfung der Tauschhandel spielen, das aber eher in ländlichen Gebieten, so Garcias Einschätzung.
- Das Land
Argentinien hat rund 46 Millionen Einwohner (Stand 2021), davon leben über 13 Millionen in der Hauptstadt Buenos Aires. Buenos Aires ist nach São Paulo die zweitgrößte Stadt in Südamerika. Die Amtssprache ist Spanisch.
- Wirtschaft
Die Landeswährung Argentiniens ist der argentinische Peso. Das Bruttoinlandsprodukt BIP des Landes betrug im Jahr 2022 632,2 Milliarden US-Dollar. Die Staatsverschuldung Argentiniens lag 2022 bei 84,5 Prozent des BIP.
- Inflation
Die Inflationsrate lag im April 2023 bei 108,8 Prozent. Im Jahresschnitt 2022 hatte Argentinien eine Inflation von 72,4 Prozent.
Eigene Wirtschaftslogik
Bei allem Erfindungsreichtum der Bevölkerung stellt sich natürlich die Frage, warum der Staat die hohe Inflation nicht stärker bekämpft. „Das ist die klassische Frage. Die Antwort ist: weil es systemimmanent ist. Das Land ist auf Schulden aufgebaut. Das ist ein Teil der argentinischen Wirtschaftslogik.“ Immer wieder wird berichtet, dass Argentinien die Staatspleite droht, weil das Land die Dollarschulden nicht bezahlen könne. Zuletzt hat die Ratingagentur Fitch Argentinien auf das Rating C herabgestuft. Beim Internationalen Währungsfonds IWF ist Argentinien mit über 40 Mrd. Dollar verschuldet. Rund 40 Prozent der argentinischen Bevölkerung sind armutsgefährdet, sie werden vom Staat mit wichtigen Sozialleistungen unterstützt.
Dass irgendwann ein Währungsschnitt kommt, ist für Garcia so gut wie sicher, erklärt er mit Verweis auf die Vergangenheit des Landes. „Es braucht eine Währungsreform, wie sie die Türkei durchgeführt hat. Mit einem Währungsschnitt und einer neuen Währung, mehr Währungsreserven und mehr Disziplin kann man der Inflation begegnen, bis sich das Rad wieder neu zu drehen beginnt.“
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