Kroatischer Exodus: „Orte, in denen ganze Straßen verwaist sind“

Österreichs Wirtschaftsdelegierte in Zagreb, Sonja Holocher-Ertl
230.000 Kroaten leben im EU-Ausland. Welche Folgen das hat, erkärt Wirtschaftsdelegierte Sonja Holocher-Ertl im KURIER-Interview.
Von Uwe Mauch

Österreichs Wirtschaftsdelegierte in Zagreb, Sonja Holocher-Ertl, kennt den kroatischen ebenso gut wie den österreichischen Arbeitsmarkt. Die massenhafte Abwanderung macht dem 4-Millionen-Einwohner-Land, das derzeit den EU-Ratsvorsitz hält, besonders zu schaffen.

KURIER: Kroatien ist seit 1. Juli 2013 Mitglied der EU. Seither haben viele Kroaten das Land verlassen. Wie dramatisch ist dieser Exodus?

Sonja Holocher-Ertl: Kroatien ist das EU-Land mit der höchsten Rate an arbeitsfähiger Bevölkerung, die im EU-Ausland lebt. Konkret sind es 14 Prozent. Im Vergleich dazu liegt der EU-Durchschnitt bei 3,8 Prozent.

Absolut sind das?

230.000 Kroaten – laut offizieller Statistik, allerdings seit 2008. Die realen Zahlen liegen wahrscheinlich noch um einiges höher, da sich viele Emigranten aus verschiedenen Gründen in Kroatien nicht abmelden. Zuerst zog es die Auswanderer stark nach Italien, mittlerweile zählen Deutschland und Irland zu den begehrtesten Ländern.

Und Österreich? Die Zahl der kroatischen Arbeitnehmer hat sich seit dem EU-Beitritt 2013 verdoppelt. Kommt da noch mehr?

Österreich hat die Personenfreizügigkeit mit Kroatien ja noch bis zum 1. Juli 2020 beschränkt. Danach wird der heimische Arbeitsmarkt noch interessanter für kroatische Auswanderer.

Stichwort Braindrain: Fehlen die, die weggehen, im eigenen Land?

Absolut, denn zuerst gehen natürlich jene, die qualifiziert sind und gute Chancen auf den EU-Arbeitsmärkten haben. Die Emigration beschränkt sich aber nicht nur auf diese Gruppe, sondern zieht sich quer durch alle Bevölkerungsschichten. Es soll Orte geben, in denen ganze Straßen verwaist sind, weil alle Familien weggezogen sind.

Stimmt es, dass auch österreichische Firmen in Kroatien Probleme haben, qualifiziertes Personal zu finden ?Die Situation stellt auch für unsere Niederlassungen eine Herausforderung dar. Besonders betroffen sind die produzierende Industrie in Niedriglohnsegmenten sowie die Leder-, Holz- und Metallverarbeitung, aber auch die Bauindustrie und der Handel. Dort ist es schon seit längerer Zeit schwierig, ausreichend Arbeitskräfte für un-, halb- und qualifizierte Tätigkeiten zu finden. Auch der Tourismus leidet unter dem Arbeitskräftemangel.

Wie will man den Exodus eindämmen?

Das Schulwesen in Kroatien produziert leider am Arbeitsmarkt vorbei. Das soll durch die Bildungsreform verbessert werden, wird aber dauern. Auch die duale Ausbildung wird nun in Kroatien ausgeweitet, unter anderem mit Know-how der Wirtschaftskammer. Die universitäre Ausbildung in Kroatien hat einen guten Ruf.

Wie groß sind die Einkommensunterschiede zwischen Österreichern und Kroaten?

Das durchschnittliche Nettoeinkommen in Kroatien lag zuletzt bei knapp 900 Euro pro Monat. Im Vergleich dazu verdienen unselbstständig Beschäftigte in Österreich laut Statistik Austria 2.226 Euro pro Monat, inklusive anteiligem Urlaubs- und Weihnachtsgeld.

Hat der EU-Beitritt den Handel mit Kroatien erleichtert?
Der Binnenmarkt hat eindeutig Erleichterungen für den Warenverkehr zwischen Österreich und Kroatien gebracht. Grenz- und Zollformalitäten sind weggefallen. Grundsätzlich können alle in der EU zugelassenen Produkte in Kroatien ohne zusätzliche Tests verkauft werden. Für einige Produkte gibt es jedoch immer noch bestimmte Formalitäten, die eingehalten werden müssen, z. B. für medizinische Produkte und Medikamente sowie gefährliche Güter, für die diverse Registrierungspflichten gelten. Auch für manche Bauprodukte gibt es nationale Vorgaben, die erfüllt werden müssen.

Erfüllt Kroatien die Kriterien, um den Euro einführen zu können?
Kroatien hat seine Kuna eng an den Euro angebunden und auch während der Rezession nicht vom Instrument der Abwertung Gebrauch gemacht, um die eigene Wirtschaft zu stützen. Man strebt den Euro aktiv an und hat vor allem bei den Kriterien Budgetdefizit und Staatsverschuldung sehr gute Fortschritte gemacht. Die Regierung hofft auf eine Einführung in der nächsten Legislaturperiode.

Und ist man bereit, dem Schengenraum beizutreten?
Ja. Die EU-Kommission hat auch eine Empfehlung für den Beitritt Kroatiens ausgesprochen. Nun müssen die Schengen-Länder die Aufnahme befürworten. Wie man bei Rumänien und Bulgarien gesehen hat, kann das dauern.

Kommentare