Sie seien geholt worden und wider Erwarten geblieben, sagte Bundeskanzler Karl Nehammer vor wenigen Monaten in einem Interview. Er bezog sich auf die türkischen Gastarbeiter, die in den 1960er-Jahren für wirtschaftlichen Aufschwung standen. Heute wird mit Migration das Stigma der Armut verbunden.
Zu Unrecht – denn die Zahlen zeigen deutlich, dass man „Migration brauchen wird, um unser Sozialsystem und den Wohlstand zu erhalten und zu steigern“, erklärt Jesús Crespo Cuaresma, Forscher an der Wirtschaftsuniversität Wien. In Kooperation mit Unternehmer Michael Tojner veröffentlichte das Institut ein wissenschaftliches Plädoyer, um Migration als Chance für Wachstum und Wohlstand anzuerkennen.
Die Faktenlage
Die demografische Situation ist bekannt: Zu viele Pensionierungen treffen auf zu viele offene Stellen (im ersten Quartal 2023 waren es 228.300). Das Wifo prognostizierte 360.000 Arbeitskräfte, die bis 2040 fehlen sollen. AMS-Chef Johannes Kopf kann diese Berechnung nicht nachvollziehen, da die Statistik Austria von einer weniger dynamischen Entwicklung ausgehe. Dennoch wäre laut Kopf pro Jahr eine zusätzliche Zuwanderung von 20.000 Arbeitskräften notwendig, um den Bedarf zu decken.
Noch in diesem Artikel:
Weshalb wir Zuzug bräuchten, aber nicht bekommen
Wie sich Migration intelligent steuern lässt
Interviews mit Soziologe Kenan Güngör, Unternehmer Damian Izdebski, WU-Wissenschafter Jesús Crespo Cuaresma, Ethno-Personalberater Oguzhan Köse, Unternehmer Michael Tojner
Wissenschaftliche Fakten und Erhebungen zu Migration
Verwehrt man sich gegen weiteren Zuzug, habe das Konsequenzen, erklärt Cuaresma. Pro Jahr würde Österreich einen Wohlstandsverlust von mindestens 0,2 Prozent erleiden, zeigen seine Berechnungen. „Das kumuliert sich extrem schnell. In 15 Jahren wären wir ohne zusätzliche Migration um drei bis fünf Prozent ärmer.“
Der Internationale Währungsfonds wiederum berechnete das wirtschaftliche Potenzial, das von Migration ausgeht: Der Anstieg der arbeitsfähigen Bevölkerung durch Migration um ein Prozent würde zu einem Anstieg der Wertschöpfung um zwei Prozent führen.
Zum richtigen Wirtschaftsmotor wird Migration im Bereich der Innovation. „Entrepreneurship ist bei Menschen mit Migrationshintergrund viel präsenter als bei Österreichern“, erklärt Cuaresma. Auch der Austrian-Start-up-Monitor 2022 zeigt: Ein Viertel der Start-up-Gründer weist einen Migrationshintergrund auf.
Die Strategien
Entscheidend sei daher, auf eine „offene und intelligente Einwanderungspolitik“ zu setzen, die klar zwischen Asyl und Zuwanderung unterscheidet, schreibt Michael Tojner in seinem Plädoyer. Was man darunter versteht?
„Dass jeder, der Fähigkeiten hat, die in einem Land gebraucht werden, auch die Möglichkeit hat, diese dort auszuleben und etwas beizutragen“, erklärt Cuaresma.
Instrumente dafür gibt es viele. Soziologe Kenan Güngör schlägt vor, auf Mikro-Targeting zu setzen und „ganz gezielt für unterschiedliche Gruppen interessante und für sie attraktive Informationen durchzugeben.“ Denn gut ausgebildete Fachkräfte informieren sich auch besser. Oft machen sie das in sozialen Medien, wo jedoch auch „Desinformation und Mythen herumschwirren“, so Güngör.
Neben Investitionen in das (nicht nur eigene) Bildungssystem sieht es Cuaresma als essenziell, gewünschte Fähigkeiten mit internationalen Partnerschaften einzuholen. Teilweise passiert das schon: Mit Indien schloss Österreich kürzlich ein Migrations- und Mobilitätsabkommen, um den Zugang zum Arbeitsmarkt proaktiv zu erleichtern.
90 Prozent der Migranten verlassen freiwillig ihr Land, um sich wirtschaftlich zu verbessern.
73 Prozent aller Migranten sind im erwerbsfähigen Alter
1,4 Milliarden Euro trug die Zuwanderung über alle Migrationsgruppen hinweg dem öffentlichen Budget in Österreich zwischen 2013 und 2018 bei (Eco-Austria-Institut)
In Österreich stieg der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund von 18,5 % (2010) auf 24,4 % (2020). Etwa 40 % fallen auf EU-Bürger
Die Problematik
Proaktiv ist das Stichwort: Von selbst ist die Einwanderung nämlich nicht zu erwarten. Die Statistik Austria prognostiziert einen leichten Rückgang der Zuwanderung.
Die Gründe? Österreich ist längst nicht so attraktiv, wie es glaubt zu sein: englisch- oder französischsprachige Länder wären klar im Vorteil und die geringer gewordenen Einkommens- und Wohlstandsunterschiede in ganz Europa würden ihr Übriges tun.
„Die Zeiten sind vorbei, in denen Österreich für einen Polen, Slowaken oder Ungarn so attraktiv war, dass er sich darum riss, herzukommen“, sagt Damian Izdebski, Gründer des IT-Unternehmens Techbold.
Fachkräfte, die er sucht, würden in der Heimat fast genauso viel verdienen wie hier. Personal aus Drittstaaten zu akquirieren, hat er nach zwei Versuchen über die Rot-Weiß-Rot Karte aufgegeben. „Ein völlig sinnloses Unterfangen“, war sein Fazit. Das Prozedere dauere zu lange. Potenzielle Mitarbeiter seien schlussendlich in ein anderes Land gezogen, wo es schnellere Zugänge gibt.
Die 2022 durchgeführte Reform kann ihn nicht dazu bewegen, sich noch einmal an das Projekt Rot-Weiß-Rot Karte zu wagen. Dennoch gibt es einen klaren Aufwärtstrend bei Bewilligungen: das AMS verzeichnet eine Steigerung von 45 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Die Unwillkommenen
Doch abseits bürokratischer Hürden schreckt auch die hiesige Willkommenskultur qualifizierte Arbeitskräfte aus anderen Nationen ab.
Denn die Botschaft, die Österreich sendet, ist: „Eigentlich wollen wir euch nicht, aber wir brauchen euch“, erklärt Soziologe Güngör. „Das ist wie eine ausladende Einladung“, mit der ein grundlegendes Problem einhergehe: „Bei doppelten Signalen gewinnt das negative.“
Der immer größer werdende Arbeitskräftemangel führe jetzt zu einem Paradoxon, erklärt Güngör. Zum einen würde man Grenzen wegen der Fluchtzuwanderung weiter schließen wollen. Zum anderen würde man Zuwanderung aber für das Wirtschaftswachstum benötigen. „Die klare Signalsetzung fehlt, die man aber bräuchte.“
Rot-Weiß-Rot Karte: Angestrebt wurden ursprünglich 8.000 Aufenthaltsgenehmigungen jährlich. Zwischen Jänner und Mai 2023 wurden bislang 3.082 positive Gutachten für die Rot-Weiß-Rot Karte und Blaue Karte EU erstellt
Die wesentlichsten Zielregionen sind Nordamerika (31 %) und Europa (21 %). Zu den Top-Zielländern zählen USA, Deutschland, Saudi Arabien, Russland und Großbritannien
Australien ist unter den westlichen Industrienationen eines der Länder mit dem höchsten Migrationsanteil. Jedes Jahr nimmt es 200.000 Einwanderer auf und wirbt mit festgelegtem Quotensystem vorwiegend Fachkräfte an
Ethnoberater Oguzhan Köse, der sich auf das Recruiting von Menschen mit Migrationshintergrund spezialisiert hat, sieht nicht nur in der Politik, sondern auch in den heimischen Unternehmen Aufholbedarf.
„Holt man gezielt Personal aus dem Ausland, ist es wichtig, sich mit seiner interkulturellen Kompetenz zu beschäftigen“, sagt Köse. Größere Betriebe wären gut beraten, Beauftragte für Diversität zu installieren. Kleinere Unternehmen könnten indes auf Mentoren derselben Ethnie zurückgreifen.
Trotzdem würden selbst Branchen, deren Personal einen erheblichen Migrationsanteil aufweist, zu wenig auf die Bedürfnisse eingehen. „Das Soziale muss komplett durchdacht sein“, so Köse. Wichtige Fragen wären: Wie steht es um den Familienzuzug und wo soll man wohnen?
Das Entweder-Oder
Anders als noch in den 1960er-Jahren, sei heute ein breites Integrationsangebot vorhanden. „Da hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren viel getan“, sagt Kenan Güngör. Die Basis für den zielgerichteten Zuzug wäre also da.
Dennoch: „Wir werden auf Dauer nicht alle Fragen über Migration lösen können, aber wir dürfen uns dem auch nicht verschließen“, sagt Kenan Güngör. Auch an der Attraktivierung der Erwerbstätigkeit insgesamt müsse geschraubt werden. „Wir müssen zweigleisig fahren. Es darf kein Entweder-Oder-Spiel sein.“
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