Wie sich Wien ohne Pendler entwickeln würde
Die Zahl der Berufstätigen in Österreich, die ihre Gemeinden verlassen oder Bundesländer wechseln um zur Arbeit zu fahren, ist seit Jahren am Steigen. Das größte Einpendlerzentrum ist Wien. Rund 270.000 Menschen fahren jeden Tag mit Auto, Bahn oder Bus in die Hauptstadt und wieder zurück.
Aber was wäre, wenn all diese Menschen nicht mehr kommen würden? Wenn mehr Einpendler die Möglichkeit hätten, ihre Arbeitszeit und den Arbeitsort flexibel zu gestalten, Telearbeit die Arbeitswege erspart? Was hätte es für Auswirkungen auf die Infrastruktur, die Umwelt, den Immobilienmarkt, den Wirtschaftsstandort und auf das Mobilitätsverhalten an sich? Ein Gedankenspiel.
1. Mobilität
Arbeitswege sind Routinewege – der Nachteil daran ist, dass nicht viel über sie nachgedacht wird. Corona allerdings hat kurzfristig für eine Trendwende im Mobilitätsverhalten in Österreich gesorgt. Zählungen der Asfinag ergaben, dass der Lockdown bundesweit für einen Rückgang des Gesamtverkehrs von 23 Prozent im ersten Halbjahr gesorgt hatte, dabei allein für fast 25 Prozent weniger Pkw.
Aufwind für Individualverkehr
Die Straßen in Wien waren leer, Fahrradfahrten hingegen boomten regelrecht, auf brachliegenden Fahrbahnen wurden Pop-up-Radwege eingeführt. Der Individualverkehr erlebte einen Aufwind – allerdings auch der motorisierte, da viele eine Ansteckung im öffentlichen Verkehr befürchteten. Die Wiener Linien und der Verkehrsbund Ost (VOR) sprechen von einem regelrechten Einbruch der Fahrgastzahlen. Noch im Dezember 2020 verzeichneten die Wiener Linien minus 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Die covid-bedingte Entlastung auf den Straßen währte nicht lange, bereits Ende Juni vermeldete die Asfinag, der Verkehr habe „sich auf das Niveau von März vor dem Lockdown normalisiert“, insbesondere im Berufs- und Pendlerverkehr. „Festgefahrene Mobilitätsroutinen aufzubrechen, ist schwer“, sagt Heinz Högelsberger von der Abteilung Umwelt und Verkehr der Arbeiterkammer.
Mehr Anreize für eine Trendwende
Um eine Mobilitätswende zu befeuern, müsse man „mehr Anreize“ setzen, so Högelsberger. „Pendeln kostet Zeit und Nerven. Wenn längerfristig mehr Menschen im Homeoffice arbeiten, ersparen sich diese Wegzeit und Staus. Arbeitgeber sind gefordert, hier Anreize zu setzen, aktives Mobilitätsmanagement zu betreiben. Etwa weniger Parkplätze anzubieten, die mehr Autofahrten provozieren und stattdessen mehr Öffi-Jobtickets und Diensträder.“
Betriebszeiten abstimmen
Flexiblere Arbeitszeiten könnten die Stauspitzen reduzieren und damit den Druck von der Straße nehmen. „Hier braucht es mehr Kooperationen zwischen großen Betrieben, Schulen und dem öffentlichen Transport. Abgestimmte Beginnzeiten entlasten dann den öffentlichen Verkehr“, ergänzt Michael Schwendinger, Verkehrsexperte vom Verkehrsclub Österreich (VCÖ). „Eine weiterer Anreiz wäre, wenn die Fahrzeit im Zug als Arbeitszeit angerechnet wird.“ Auch eine Reform der Pendlerpauschale wäre nötig, um den Umstieg auf den öffentlichen Verkehr zu erleichtern.
2. Immobilien
Wien und sein Umland wachsen, die regionalen Verflechtungen nehmen zu. Spinnenartig reichen die zentralen Verkehrsrouten von Wien in die umliegenden Bundesländer. Über sie gelangen allein aus Niederösterreich und dem Burgenland rund 167.000 Pendler in die Hauptstadt. Und es werden immer mehr. Allein in Niederösterreich hat die Zahl jener, die zu ihrem Arbeitsplatz pendeln müssen, zwischen 1989 und 2019 um 117 Prozent zugenommen.
Berufsverkehr als Ventil
In Wien fungieren die Pendlerströme wie ein Ventil, sie nehmen den Druck vom urbanen Wohnungsmarkt, sagen Immobilien-Experten Sandra Bauernfeind (EHL) und Georg Fichtinger (CBRE). Wohnungspreise und Einpendler korrelieren also – ziehen viele Menschen in die Stadt, steigen die Wohnungspreise dort an. Ziehen Menschen weg, lässt der Druck auf den Wohnungsmarkt nach.
Pendeln als Lebensphase
Trotzdem: Würde der Pendlerverkehr zurückgehen, würden die Wiener Wohnungspreise nicht fallen, glaubt Bauernfeind, es gebe weitere Faktoren, die auf Immobilienpreise einwirken. „Die Bevölkerungszahl steigt zunehmend, zudem ist ein Umzug aufs Umland nicht nur eine Frage des Wohnpreises, sondern hängt auch mit der Lebensphase zusammen. Vor allem Jungfamilien zieht es aufs Land.“
Würden Pendler vermehrt in ihren Gemeinden bleiben, so müsse das nicht überall steigende Immobilienpreise zur Folge haben – dies sei von Gemeinde zu Gemeinde verschieden, so Bauernfeind. Teurer werde es aber immer dort sein, wo es eine gute öffentliche Anbindung nach Wien gibt. Er räumt aber ein: „Der Radius könnte sich erweitern. Wer nur zwei Mal pendelt, nimmt weiter Distanzen in Kauf.“ Somit könnten Gemeinden in den Fokus rücken, die bislang noch zu weit weg sind.
Öffentlicher Verkehr wertet auf
Bahnhaltestellen werten nicht nur Wohnungen auf, auch Betriebsstandorte werden dadurch attraktiver. Die höchsten Preise erzielen demnach Büroregionen im ersten Wiener Bezirk, neu hinzugekommene Standorte am Prater und am Hauptbahnhof, sowie Flächen am Wienerberg.
Ein reduzierter Pendlerverkehr würde Georg Fichtingers Ansicht nach den Bedarf nach aber Büros nicht bremsen. Selbst mit ein bis zwei Tagen Homeoffice: „Die Mehrheit der Arbeitsplätze ist in der Stadt oder im Umkreis.“ Bestehende Büros würden zudem anders genutzt. „Als Ort der Vernetzung werden sie wichtiger, Büroflächen würden großzügiger werden, mit mehr Fläche pro Mitarbeiter.“
3. Umwelt
Arbeitswege sind der häufigste Wegzweck und werden in Österreich gerne motorisiert zurückgelegt. Sie sind daher auch ein bedeutender Hebel, um den Verkehr auf Klimakurs zu bringen. Selbst wenn der Arbeitsweg kürzer als zehn Kilometer ist, legen 57 Prozent der Berufstätigen in Österreich diesen mit dem Auto zurück. Rund um Wien verursachen die Ein- und Auspendelnden an einem Werktag Treibhausgaus-Emmissionen im Umfang von rund 1.100 Tonnen -Äquivalenten.
Bahnpotenzial nicht ausgeschöpft
Würde sich der motorisierte Verkehr hingegen zu drei Vierteln auf die öffentlichen Verkehrsmittel verlagern, könnten die Emissionen um rund ein Viertel reduziert werden, berechnet eine Erhebung der Arbeiterkammer und der TU Wien. Das Potenzial sei längst nicht ausgeschöpft: Allein an den beiden Ostkorridoren Marchegg und Bruck an der Leitha leben dreimal mehr Erwerbstätige im Einzugsgebiet der Bahn, als diese aktuell nutzen.
Auf den ersten Blick scheint auch ein Mehr an Homeoffice bzw. Telearbeit klimaverträglicher zu sein, da so Arbeitswege eingespart werden könnten. Laut Berechnungen des Umweltbundesamts könnten in Österreich kurzfristig 25,8 Prozent bis langfristig 39,3 Prozent aller Erwerbstätigen prinzipiell dauerhaft oder temporär von zu Hause arbeiten.
Rebound-Effekte
Einsparungspotenzial: Rund 300 Kilotonnen CO2-Äquivalenten pro Jahr, wenn rund ein Viertel aller Erwerbstätigen in Österreich 40 Prozent der Arbeitszeit (oder 2 von 5 Arbeitstagen) von daheim arbeitet. Allerdings warnt der Projektbericht vor sogenannten „Rebound-Effekten“. Die Pkw-Nutzung wird wieder für andere Gruppen attraktiver, da Staus in Stoßzeiten ausgewichen werden kann“, erklärt VCÖ-Verkehrsexperte Michael Schwendinger – dem müsse man durch attraktiveren öffentlichen Verkehr entgegenwirken.
Wachsende Distanz
Der Projektbericht vermutet zudem „eine wachsende Distanz zwischen Wohnort und Arbeitsstätte“, die höheren Distanzen kompensieren damit Emissionseinsparungen. Zudem könnte die Pkw-Nutzung in der Freizeit steigen, etwa für Einkäufe, die oft mit Arbeitswegen kombiniert werden. Außerdem: „Mit Homeoffice steigt der Energieverbrauch zu Hause“, so Schwendinger. In Belgien zeigte sich etwa, dass 70 Prozent der Einsparungen u. a. durch erhöhten Energieaufwand daheim kompensiert wurden.
4. Infrastruktur
60 Prozent der rund 270.000 Pendler in Wien fahren mit dem Auto. Laut Daten des Verkehrsclubs Österreich (VCÖ) verursachen Dienstwege damit an Werktagen mehr als die Hälfte des Pkw-Verkehrs in Österreich. Die Folge sind Staus zu Spitzenzeiten und eine starke Beanspruchung der Straßeninfrastruktur. Da die Pendlerzahlen von Jahr zu Jahr steigen, sind Überlastungsstaus auf den Hauptverbindungen programmiert.
Der Ausbau des Straßennetzes führt jedoch zu keiner Entlastung.
Straßen schaffen Verkehr
„Mit jeder Fahrbahn mehr wird mehr Verkehr erzeugt“, sagt Hermann Knoflacher, emeritierter Verkehrswissenschafter an der TU Wien. Es zeige jedoch, dass man über das Angebot der Infrastruktur das Mobilitätsverhalten ändern könne. Wer Radwege ausbaut, fördert Radverkehr, wer Parkplätze umgestaltet in Grünflächen, macht Fußwege attraktiver.
Ein Wegfallen des motorisierten Pendlerverkehrs allein würde für die große Verkehrswende nicht reichen, glaubt Michael Schwendinger vom VCÖ. Das habe der Lockdown gezeigt: „Homeoffice-Empfehlungen, Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit hatten das Verkehrsaufkommen nach dem Frühjahr drastisch gesenkt und damit auch den Berufsverkehr, gleichzeitig hat es einen Trend zum Individualverkehr gegeben.“ Dazu zählt nicht nur das Rad, sondern auch das Auto.
Freie Flächen umgestalten
Leere Straßen wirken damit verführerisch auf jene, die aufgrund des Verkehrs eigentlich lieber die Öffis wählen. Damit der fehlende Pendlerverkehr nicht an anderer Stelle aufgefüllt wird, müsste der wiedergewonnene öffentliche Raum anders genutzt werden. Knoflacher sieht hier viel Potenzial: „Freigewordene Parkflächen und Garagen können umgewidmet werden in mehr Grünflächen und in Fußgängerwege, das wiederum führt zu einer besseren Lebensqualität, weniger Lärm, mehr sozialen Begegnungen.“
Gleichzeitig müsse man den öffentlichen Verkehr ausbauen. Hier gibt es laut einer Studie der TU Wien enorm viel Potenzial. An fast allen zentralen Bahnrouten wohnen tausende mögliche Bahnpendler. Das größte Potenzial gebe es entlang der Süd- und Westachse mit rund 139.600 Pendlern.
Investiert werden müsste hier in Zubringerbusse an Haltestellen, Park-and-Ride-Anlagen sowie gute Fußweg- und Radinfrastrukturen an den Bahnhöfen, um Pendler in die Bahn zu bringen.
5. Wertschöpfung
Würden weniger Menschen zur Arbeit pendeln, hätte das einen starken Effekt auf deren unmittelbaren Wohnort, meint Verkehrswissenschafter Hermann Knoflacher. „Eine Schweizer Studie hat gezeigt, dass ein mehr an Homeoffice lokale Netzwerke an den Wohnorten entstehen lässt, den regionalen Einzelhandel fördert und die Gastronomie.“ Ähnlich könnte es sich auch im Wiener Umland entwickeln. Die hohe Pendlerzahl hängt allerdings auch mit dem höheren Jobangebot in Wien zusammen.
Voraussetzung: Gesunde, regionale Infrastruktur
Eine wichtige Voraussetzung für weniger Berufsverkehr wäre damit auch eine gute Wirtschafts- und Infrastruktur im Umland – mehr regionale Betriebe und Arbeitsplätze, mehr Kindergärten und Schulen. Würden weniger Menschen mit dem Pkw und mehr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Wien fahren, sei das für den Wiener Einzelhandel aber nicht gefährlich, so Knoflacher. „Die Kaufkraft verhält sich immer proportional zum Verkehr. Fußgänger tragen weniger Geld, dafür gehen sie häufiger in die Geschäfte. Autofahrer können mehr Geld ausgeben, da sie mehr transportieren, gehen deswegen aber seltener einkaufen.“
26 Milliarden Bruttoregionalprodukt
Was die Wertschöpfung angeht, so verdient Wien gut am Pendlerwesen. „Wien erwirtschaftet jährlich ein Bruttoregionalprodukt von rund 100 Milliarden Euro, für 26 Milliarden sind die Pendler verantwortlich. Zudem fließen durch Steuern und Abgaben wiederum 14,1 Milliarden Euro in den Staatshaushalt zurück“, sagt Alexander Biach, Standortanwalt der Wirtschaftskammer Wien.
Davon profitieren insbesondere die Handelsbranche, freiberufliche, wissenschaftliche, technische und sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen, der Produktionssektor sowie Information und Consulting. Theoretisch könnte man die 270.000 Pendler mit den rund 170.000 arbeitslos gemeldeten bzw. in Schulungen befindlichen Wienerinnen und Wienern ausgleichen – der Bedarf wäre bis zu zwei Dritteln gedeckt.
Allerdings gibt es große Unterschiede in den Qualifikationen, wenn man das Bildungsniveau der Wiener Einpendler mit jenen Arbeitslosen in der Hauptstadt vergleicht. 21 Prozent der Pendler weisen einen Hochschulabschluss auf, 15 Prozent besuchten eine Berufsbildende Höhere Schule. Arbeitslose in Wien haben zu 40 Prozent einen Pflichtschulabschluss, nur 11 Prozent sind Akademiker.
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