Weisheitsforscherin Judith Glück: „Weisheit ist nicht angeboren“

Weisheitsforscherin Judith Glück: „Weisheit ist nicht angeboren“
In der Pandemie haben sich tiefe Gräben aufgetan. Wie würden weise Menschen die Situation entschärfen? Das erklärt Weisheitsforscherin Judith Glück.

Judith Glück spricht im Interview mit dem KURIER von einem Boom ihres Themas, der Weisheit. Diese, so scheint es, ist eine Eigenschaft, die aktuell in vielen Situationen mangelhaft vorhanden ist. Wie also können wir alle ein wenig weiser agieren und weise werden? Das weiß die Psychologin Judith Glück, die über das Thema in allen Facetten seit vielen Jahren an der Universität Klagenfurt forscht.

KURIER: Die Gesellschaft scheint gespalten. Wie würde eine weise Person reagieren, wenn die Fronten verhärtet sind?

Judith Glück: Ich finde das Schlagwort von der ‘Spaltung’ überzogen, aber es gibt schon zunehmend Bruchlinien, die auch mitten durch Familien gehen, wo beide Seiten einander stark abwerten und auch moralisch verurteilen. Das ist aber nicht erst seit COVID ein Thema, im politischen Bereich gibt es diese Polarisierung schon länger, man sieht es deutlich in den USA, aber durchaus auch bei uns.

Was ist der Grund dafür?

Da gibt es viele Gründe, einer davon sind sicher die viel beschimpften Sozialen Medien. Dort findet man schnell Gleichgesinnte, die sich gegenseitig bestätigen, und trifft auf keine Gegenargumente. Da klingen die Lösungen einfach. Aber, wie Sinowatz sinngemäß sagte: Die großen Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, sind kompliziert. Wir bräuchten aktuell jemanden, der kommunizieren kann, wie komplex die Situation ist, dass man daran so gut wie möglich arbeitet und lernt. Das ist nicht leicht, wenn sofort ein anderer kommt und meint, eine einfache Lösung zu haben.

Menschen haben unterschiedliche Bilder von Weisheit. Welche Grundeigenschaften konnten Sie in ihrer Forschung finden?

Weise Menschen wissen sehr viel über das Leben. Dazu gehört auch das Wissen, dass Menschen unterschiedlich sind, dass vieles unvorhersehbar ist. Weise Menschen wissen, das Leben ist komplex. Und sie wissen, dass sie nicht alles wissen. Es gehört auch eine gewisse Haltung dazu, dieses Wissen zu erwerben. Es braucht große Offenheit, großes Interesse, ist von Verstehenwollen gekennzeichnet, der Bereitschaft, sich mit Gefühlen auseinanderzusetzen, den eigenen und denen der anderen, und gut mit ihnen umgehen zu können.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Beruf und Weisheit?

Manche Berufe ziehen weise Menschen nicht an. Ich habe zum Beispiel den Eindruck, dass Politik für weise Menschen nicht attraktiv ist. Weil man viele Kompromisse machen muss, sich an Wählerstimmen orientieren muss. Und auch in der Politik redet man tendenziell nur mit seinen eigenen Leuten, ist in seiner Blase. Es gibt systemische Faktoren, die Weisheit behindern. Wir haben zum Beispiel Manager befragt, wann sie ihre schlechtesten Entscheidungen getroffen haben. Sie sagten oft: unter Zeitdruck. Die Frage ist, kann man Strukturen aufbauen, die mehr berufliche Weisheit ermöglichen?

Tragende Entscheidungen für die Gesellschaft oder Unternehmen werden selten von einer einzelnen Person getroffen. Wann sind Gruppen weiser als die weiseste Einzelperson?

Wenn die Gruppe heterogen zusammengesetzt ist, die Menschen unterschiedliches Wissen mitbringen. Aber die Gruppe muss sich auch eine Kultur schaffen, wo jede Meinung gehört und akzeptiert wird, sonst dominiert vielleicht eine Person. Weise Entscheidungen werden evidenzbasiert getroffen und haben nicht den eigenen Vorteil im Blick.

Wenn man an einem Scheidepunkt steht – wie trifft man eine weise Entscheidung?

Unsere Forschung hat ergeben, dass Menschen ihre Entscheidungen im Nachhinein als weise empfunden haben, wenn sie einerseits verschiedene Perspektiven berücksichtigt haben, andererseits aber auch das getan haben, was für sie persönlich wichtig war. Man muss Bauchgefühlen nicht unbedingt folgen, aber sie ernst nehmen. Sich fragen, was ist mir wirklich wichtig im Leben?

Ist Weisheit erst im Alter zu erlangen?

Weisheit hat zwar mit Lebenserfahrung zu tun, aber nicht alle alten Menschen sind weise. Aktuelle Studien weisen darauf hin, dass die Weisheit meistens im Alter zwischen 50 und 70 Jahren am höchsten ist. In diesem Alter hat man schwierige Situationen und Scheitern erlebt, man hat sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft im Blick.

Sind alle Menschen zur Weisheit begabt?

Weisheit ist nicht angeboren. Es gibt eine angeborene Komponente, aber zu mindestens 80 Prozent entscheidet, wie man mit dem umgeht und aus dem lernt, was einem im Leben passiert.

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