Was wir 2015 gelernt haben
#1: Kein Platz für Schwächere
Arbeit und Wohlstand für alle? Allein in Österreich waren Ende November 430.107 Menschen arbeitslos. Ältere (bei den über 50-Jährigen gab es einen Anstieg von 1,3 Prozent auf 97.318 Arbeitslose), und schlecht Ausgebildete (166.262 Arbeitslose hatten nur einen Pflichtschulabschluss) haben kaum Chancen am Arbeitsmarkt. Wenig überraschend, dass die Jobchancen für Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind und deren Ausbildung in Österreich nicht anerkannt wird, bei null liegen. Aktuell sind 20.500 Menschen mit Asylstatus arbeitslos. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung ist in Zeiten des geringen Wachstums wahrlich unbarmherzig. Die Rechnung – kein Wachstum, kein Rückgang der Arbeitslosenquote, kein Wohlstand für alle – bezahlen vor allem die Schwächsten der Gesellschaft. Eine starke Förderung und bedarfsgerechte Ausbildung für alle benachteiligten Gruppen und Investitionen in den Arbeitsmarkt sind der Ausweg aus der Misere, aber die Politik macht nur kleine, zaghafte Schritte in diese Richtung. Kann sie nicht, will sie nicht? In der Zwischenzeit werden Frust und existenzielle Angst der Menschen in diesem Land größer und schnell sind auch Schuldige herbeigeredet. Obwohl: Unsere Welt ist gar nicht so böse, wie sie uns teilweise erscheint. Experten, wie Zukunftsforscher Harry Gatterer und Ökonom und WIFO-Chef Karl Aiginger sagen ganz klar: Wir sind reicher als je zuvor. Gatterer sagt, wir hätten ein Wahrnehmungsproblem. Aiginger sagt, Europa könne den Wohlstand nur mit Zuwanderung halten. Eigentlich geht es uns gut. Wieso sollte da also kein Platz für die Schwächsten sein?
#2: Auch Riesen können wanken
Ich bin nicht der Teufel“, sagte der zurzeit suspendierte FIFA-Präsident Joseph S. Blatter. Hat so auch niemand behauptet. Aber gut, Blatter sieht sich in der Opferrolle. Nur glaubt ihm das niemand mehr. Dass ein Mann, mächtig, selbstsicher und -verliebt wie Blatter, ins Wanken gerät, lässt Hoffnung keimen, dass sich Tugend und Handeln zugunsten des Gemeinwohls doch auszahlen.Dass es keine gute Idee ist, zu betrügen und zu vertuschen, hat auch der VW-Skandal vorgemacht. Der einstige Saubermann-Konzern – ausgerechnet ein deutsches Unternehmen, sogar das wertvollste – ist nach der Abgas-Affäre schwer angeschlagen. Man hat sich in aller Form entschuldigt. Ob das reicht? Ob der Konzern wieder nach oben kommt und das Vertrauen der Verbraucher und Aktionäre zurückgewinnen kann, wird sich erst zeigen.
#3: Auch gut Gebildete werden arbeitslos
Wenn die Arbeitslosenrate in Österreich monatlich ansteigt, Höchststand erreicht, trifft das alle – bis in die höchsten Schichten. Über Jahrzehnte galt die gute Ausbildung als Jobgarant. Das hat sich geändert. Selbst hoch qualifizierte Facharbeiter und Akademiker sind nicht mehr vor Arbeitslosigkeit gefeit. Absolut betrachtet hat sich die Zahl der arbeitslosen Akademiker von 8514 im März 2007 auf 20.010 im März 2015 mehr als verdoppelt – ein Plus von 135 Prozent. Der Anstieg ist der Marktlage und der Akademikerschwemme geschuldet. Wegen der hohen Zahl an Höchst-Ausgebildeten wird die akademische Ausbildung des Einzelnen immer weniger nachgefragt. Besonders betroffen sind hiervon die Studienrichtungen Betriebswirtschaft und Rechtswissenschaft, gefolgt von Psychologie, Publizistik und Architektur. Tröstliches Detail am Rande: Die Arbeitslosenquote liegt bei Personen mit Pflichtschulabschluss bei 25 Prozent, bei Akademiker bei nur 3,5 Prozent.
#4: Arbeit macht nicht mehr reich
Die Formel lautet: Schlechte Konjunktur + viele Arbeitslose = schlechte Bezahlung. 2120 Euro brutto, nach Abzug von Steuer und Sozialversicherung 1472,12 Euro netto – das ist das Durchschnittsgehalt eines Akademikers beim Berufseinstieg heute. Genau wie vor zehn Jahren. Nominell sind die Gehälter für Einsteiger nach Matura oder Studium gleichgeblieben. Vor zehn Jahren verdiente ein WU-Absolvent 2280 Euro brutto im Monat, heute sind es 2370 Euro. Das Durchschnittsgehalt der HTL-Absolventen 2005: 1890 Euro; 2015: 1960 Euro. Bei einer Teuerung von 21 Prozent seither sind die Gehälter also real sogar gesunken. Die Gründe dafür: Vor zehn Jahren war die Marktlage eine völlig andere. Es war Hochkonjunktur, Firmen haben Mitarbeiter gesucht, expandiert. Das ist vorbei, jetzt wollen alle einsparen, müssen die Kosten senken. Das bekommen vor allem die Einsteiger zu spüren. Gegen die Gehaltsvorrückungen der Stammbelegschaft können Firmen wenig tun, sie stehen deshalb bei den Jungen auf der Kostenbremse. Bei gestiegenen Lebenskosten doppelt bitter.
#5: Wer sich nicht ändert, geht ein
baumax, Zielpunkt, Schirnhofer – alles österreichische Familienunternehmen, die im scheidenden Jahr pleitegegangen sind. Baumax hat gezeigt, dass Expansion unter allen Umständen nicht zu wirtschaftlichem Erfolg führt. Vor allem nicht, wenn man das Geschäft in den Fremdmärkten nicht konsequent beobachtet und lenkt. Zielpunkt hatte keine klare Linie, war weder Diskonter noch Qualitätsmarkt, nicht Fisch, nicht Fleisch. Schirnhofer hatte versucht, durch Zukäufe zu vergrößern, hat Altlasten mit eingekauft und konnte das schlussendlich nicht mehr tragen. Alle drei Unternehmen hatten versucht, sich von außen (mit Zukäufen und Expansion) zu entwickeln. Haben dabei aber vergessen, das Kerngeschäft aus eigener Kraft zu verändern. Die fatalen Folgen: der Untergang dieser traditionellen Familienbetriebe und mit ihnen tausende Arbeitslose. 21.200 Dienstnehmer waren heuer von Pleiten betroffen, zieht der KSV1870 traurige Bilanz. Unternehmer tragen enorme Verantwortung und gehen damit in der Regel auch sehr sorgsam um. Dennoch gehen rund 80 Prozent der Pleiten auf Management-Fehler zurück, heißt es.
#6: Die Zivilgesellschaft ist präsent
Sie übernimmt, wo der Staat auslässt, gibt Identifikation und erreicht Großes. Die Flüchtlingskrise hat es gezeigt. Ohne Heer an Freiwilligen, würden Flüchtlinge in Österreich – und in ganz Europa – ein noch menschenunwürdigeres Dasein fristen. Nach dem Büro, zwischen Vorlesungen, im Urlaub nehmen sich Menschen Zeit, jenen zu helfen, die vor Krieg und Tod fliehen mussten. Eine Organisation hat stellvertretend für alle ehrenamtlichen Helfer nun den Menschenrechts-Preis entgegen genommen: Train of Hope vom Hauptbahnhof (im Bild) .Dass die Gesellschaft traditionelle Aufgaben des Staates und der Wirtschaft übernimmt, hat auch ein anderes Phänomen gezeigt: Crowdfunding. Da Banken kein Geld mehr geben – jedenfalls zu wenig, um ein Start-up aufzubauen – versuchen Jungunternehmer bei der Masse ihr Glück. Jeder kann zum Investor werden – das Crowdfunding-Gesetz, das Mitte des Jahres vom Nationalrat beschlossen wurde, bietet dafür den rechtlichen Rahmen. Crowdfunding wird bei Start-ups immer beliebter und das nicht nur als neue Finanzierungsoption. Nicht zuletzt werden so Markt und Zielgruppe abgetastet.
#7: Roboter übernehmen Jobs
Sie fahren selbstlenkende Autos, erkennen Sprache und setzen Produkte zusammen: Roboter drängen in alle Arbeitsbereiche. Das ist kurz- und mittelfristig nicht nur positiv, denn wenn eine Maschine günstiger und präziser arbeitet, zieht der Mensch den Kürzeren. Analysten der Bank of America Merrill Lynch prognostizieren, dass 2025 rund 45 Prozent der Arbeit in der Produktion von Robotern ausgeführt wird. Heute sind es erst zehn Prozent. Rund 4,7 Millionen Service-Roboter wurden im vergangenen Jahr weltweit verkauft. Der Versandhandel Amazon beschäftigt rund 15.000 Packroboter. Auch die britische BBC hat Ende Oktober eine Studie der University of Oxford analysiert und die Antwort darauf geliefert, welche Jobs der Automatisierung bald geopfert werden: Callcenter-Agents, Qualitätsprüfer, Kanalarbeiter und etwa Bibliothekare stehen ganz oben auf der Liste. Auch Kellner sind zu 90 Prozent gefährdet. Kaum bedroht sind hingegen etwa Psychologen, Hebammen und Krankenschwestern. Weil: Roboter haben kein Mitgefühl. Aber kein Grund zur Sorge, Experten glauben nicht, dass es insgesamt weniger Jobs geben wird – es werden nur andere sein. Wir wollen es ihnen glauben.
#8: Feinde werden "Freunde"
Da wird gepokert, geflunkert, dem gemeinen Feind ein Bein gestellt. Jahrelang ist der Konkurrent Unternehmensfeind Nummer eins – und auf einmal muss man sich mit dem Gegner ins Bett legen. Sitzt der Feind plötzlich sogar im eigenen Unternehmen. So geschehen im Spiel um die Aufteilung der Anteile bei der Casinos Austria AG 2015. Hier hat der größte Gegner Novomatic, weltweit erfolgreicher Spielautomatenproduzent und Casino-Betreiber, letztlich das große Spiel gemacht. Die Gumpoldskirchner Firma, gegründet vom gelernten Fleischermeister Johann F. Graf, hält mittlerweile knapp 40 Prozent an den Casinos Austria. Auf einem ganz anderen Schauplatz – im Kampf gegen den Terrorismus – ist in diesem Jahr das Arrangieren der westlichen Staaten mit dem russischen Staatschef Wladimir Wladimirowitsch Putin notwendig geworden. Der französische Staatspräsidenten François Hollande reiste nach Moskau und traf den Kreml-Chef, selbst US-Präsident Obama näherte sich Putin an. Was wir daraus ableiten können? Wenn der Zweck die Mittel heiligt, wird der Feind mitunter zum „Freund“. Nicht aus Sympathie, sondern weil es die Situation nicht anders zulässt.
#9: Die Karriereleiter hat ein Ende
Ein Phänomen, das 2015 öfter zu beobachten war: Das berufliche „Downgrading“. Es hält verstärkt Einzug in die Karriere-Verläufe der Angestellten. Der nächste Job ist dann nicht mehr der höhere, der besser bezahlte. Sondern ist oft nur auf gleicher Ebene oder liegt hierarchisch und monetär sogar unter der alten Beschäftigung. Beim Jobwechsel auf der mittleren Führungsebene müsse derzeit viele mit einem Gehaltsverlust von 20 bis 25 Prozent rechnen. Jede dritte „freigesetzte“ Führungskraft macht Abstriche bei Gehalt und Prestige. Nur noch 20 Prozent der Manager gelingt mit dem Jobwechsel eine Verbesserung ihrer Position. Das hat auch damit zu tun, dass Umstrukturierungen Führungspositionen vielfach überflüssig machen. Und dass Firmen bei Neueinstellungen tunlichst sparen. Die linearen Kamin-Karrieren – immer höher, immer mehr nach oben – gehören also der Vergangenheit an. Heute muss man bereit sein, eine Stufe quer- oder zurückzusteigen. Ein Umdenken wird notwendig: Es gibt künftig keinen Aufstieg oder Abstieg mehr, sondern nur noch den Umstieg. Und mit den Veränderungen – mal wird es besser, mal schlechter – sollte man besser umgehen lernen.
#10: Frauen ziehen sich zurück
Die Hälfte der DAX-Vorständinnen ist in den vergangenen zwei Jahren wieder verschwunden. Was man in Deutschland auf Top-Ebene festmachen kann, ist auch bei uns sichtbar: Frauen sind in Chefetagen unterrepräsentiert, ziehen sich zum Teil sogar zurück. Das wird nicht nur durch die rein männliche Regierung in Oberösterreich bestätigt. Wir erinnern uns: Die Regierung dort ist mit der Landtagswahl am 27. September zu einem reinen Männerbund geworden, die einzige Frau, Bildungslandesrätin Doris Hummer, verlor ihren Posten. Zurück zur Privatwirtschaft: In den Geschäftsführungen der 200 umsatzstärksten Unternehmen scheint die Männerdominanz nahezu einzementiert. Der Frauenanteil liegt bei 5,9 Prozent und hat sich seit 2006 nur marginal erhöht. In nur 36 der 200 größten Unternehmen ist eine Position in der Geschäftsführung oder im Vorstand mit einer Frau besetzt. Auch auf Podien, Bühnen und in den Medien sind Frauen immer noch schwach vertreten. „Man sieht überall weniger Frauen. Das Umfeld ist so viel härter geworden, dass Frauen zurückgedrängt werden oder sich zurückziehen“, analysiert Karrierecoach Christine Bauer-Jelinek.
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