Unbezahlte Praktika: Sie treiben Studierende oft in finanzielle Not
Wie wichtig die Bereiche Gesundheit, Pflege und Soziales sind, hat die Pandemie gezeigt. Die sogenannten „systemerhaltenden“ Berufe gelten als Jobs der Zukunft. Doch die Krise hat auch die Probleme offengelegt: eklatanten Personalmangel, harte Arbeitsbedingungen, Überlastung. Davon sind nicht nur ausgebildete ÄrztInnen, PflegerInnen und SozialarbeiterInnen betroffen.
Die Probleme beginnen bereits ganz unten in der Hierarchie. Die unterste Stufe bilden die StudentInnen, die im Rahmen ihrer Ausbildung Pflichtpraktika in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und sozialen Organisationen absolvieren. Auch PraktikantInnen stehen in der Notaufnahme, pflegen Covid-Erkrankte oder betreuen Kinder in Krisenzentren. Und auch sie berichten von Erschöpfung, Verzweiflung, mitunter gar von Wut.
Monatelange unbezahlte Arbeit
Denn BerufspraktikantInnen im Gesundheits- und Sozialwesen, die je nach Studienrichtung mehrere Monate in einer Einrichtung arbeiten, werden in der Regel nicht bezahlt. Darüber herrscht immer größerer Unmut. Nicht selten berichten Studierende, im Praktikum im Prinzip dasselbe wie angestellte MitarbeiterInnen leisten zu müssen – mit dem Unterschied, dass sie das ohne jegliches Einkommen machen.
„Was mit uns Praktikantinnen geschieht, ist Ausbeutung unserer Arbeitskraft“, kritisiert Leokadia Grolmus, die selbst Soziale Arbeit an der FH Campus Wien studiert hat. Im April startete die Studentin die Petition #ZukunftPraktikum, um auf den Missstand unbezahlter Pflichtpraktika aufmerksam zu machen, sowie auf die finanziellen Nöte, in die Studierende infolgedessen rutschen.
Denn wer nicht auf die finanzielle Unterstützung von Eltern oder Verwandten zählen kann, muss selbst irgendwie durchkommen. Hat aber, weil das Praktikum so viel Zeit in Anspruch nimmt, keine Möglichkeit, nebenbei zu jobben.
"Es gibt nichts, was mich auffängt"
„Ich habe von Anfang an gewusst, dass es nicht leicht wird", erzählt Grolmus. "Ich hatte eine Ahnung, wie es kommen wird. Man gibt wirklich viel in seinem Leben auf, wenn man sich für so eine Studienlaufbahn entscheidet. Tagsüber habe ich gearbeitet und am Abend hatte ich Vorlesungen in der FH bis 21 Uhr. Um 22 Uhr war ich wieder zuhause. So ging das Montag bis Freitag.
" Für meine 60 Stunden-Woche, 40 Stunden Praktikum und 20 Stunden in der FH, habe ich meinen Urlaub aufgebraucht, damit ich genau diese Konstellation hinbekomme. Hinzu kommen Existenzängste. Es gibt nichts, was mich auffängt, wenn ich falle. Studierende haben keinen Anspruch auf Mindestsicherung und nur unter strikteren Bedingungen Anspruch auf Arbeitslosengeld.“
Hamsterrad Job, Studium, Praktikum
Kathrin Wodraschke, stellvertretende Leiterin der Psychologischen Studierendenberatung Wien kennt das Hamsterrad, in das viele geraten. „Vor allem FH-Studierende leiden unter der Doppel- und Dreifachbelastung durch Studium, Praktikum und Job“, so die Psychologin. „Es werden aber weniger die unbezahlten Praktika thematisiert, hier herrscht schon Resignation. Die Existenzängste ziehen sich durch das gesamte Studium.“
Während des Studiums werden Praktika meistens von Eltern bezuschusst – ob nicht eher die Arbeitgeber für die Arbeit zahlen sollten, ist eine legitime Frage.
Betroffen sind davon nicht wenige. Laut der Studierendensozialerhebung 2019 sind etwa zwei Drittel aller Studierenden in Österreich erwerbstätig. Der häufigste Grund: „Um sich das Leben finanzieren zu können.“ Doch die Hälfte aller erwerbstätigen Studierenden hat Schwierigkeiten, Studium, Vollzeitpraktikum und Job zu vereinbaren.
„Wir merken, dass diese finanzielle Last die Studienwahl beeinflusst“, so Wodraschke. Wer vor Studienantritt nicht finanziell abgesichert sei, könne sich eine Ausbildung mit unbezahlten Praktika nicht leisten. Doch gerade der Sozial- und Gesundheitsbereich wäre dringend auf Nachwuchs angewiesen.
"Für mein Studium habe ich mir 66.000 Euro geborgt"
"Auf der Privatuni auf der ich studiere, kostet das Studium 25.000 Euro im Jahr. Die ersten vier Jahre haben meine Eltern finanziert, für die letzten zwei, drei Jahre habe ich mir 66.000 Euro von einer Bekannten ausgeborgt, die ich ihr zurückzahle, sobald ich als Ärztin arbeite", erzählt eine Medizinstudentin einer Privatuni, die derzeit ihr Klinisch-Praktisches-Jahr (KPJ) absolviert. Aus Sorge vor einer schlechteren Bewertung spricht sie nur anonym über ihren Unmut.
"Bei 500 Euro netto, die ich im KPJ verdiene,gehen 300 Euro auf die Miete. Ich lebe von 200 Euro im Monat, bin extrem sparsam und plane alle Freizeitaktivitäten danach, dass sie kostenlos sind. Wer 35 Stunden im Krankenhaus arbeitet, kann danach schon noch jobben, aber man muss ja an den Wochenenden auch noch lernen. Die meisten meiner Freunde werden von zuhause unterstützt, ansonsten wäre das kaum möglich."
"Mehr BewerberInnen als Studienplätze"
Dieses soziale Ausschlussverfahren kann Barbara Bittner, Rektorin der FH Campus Wien nicht bestätigen – im Gegenteil. „Die soziale Durchlässigkeit ist höher als an Universitäten und das Interesse an Studienplätzen im Gesundheits- und Sozialbereich ist hoch. Es bewerben sich weit mehr, als es Studienplätze gibt“.
Ob Pflichtpraktika bezahlt werden, hängt einerseits davon ab, ob sie als Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis definiert sind, aber auch von der jeweiligen Branche. In der Industrie, im Gastgewerbe und im Handel sind Praktika längst kollektivvertraglich geregelt und werden entsprechend bezahlt.
Praktika sind oft Arbeitsverhältnisse
Im Gesundheits- und Sozialbereich sind bezahlte Praktika eine Seltenheit. Die Arbeiterkammer macht jedoch schon länger darauf aufmerksam, dass Pflichtpraktika in den meisten Fällen den Kriterien befristeter Arbeitsverhältnisse entsprechen würden. „PraktikantInnen halten sich an Arbeitszeiten, arbeiten weisungsgebunden und oft als vollwertige MitarbeiterInnen einer Organisation“, erklärte Boris Ginner von der Arbeiterkammer Wien dem KURIER.
Ob bezahlt oder nicht – der berufspraktische Teil des Studiums bildet einen integralen Bestandteil im Curriculum jeder FH in Österreich, sowie auch einiger Universitätsstudiengänge, darunter in Human- und Zahnmedizin. Ohne Praktikum gibt es auch keinen Studienabschluss. Das Konzept verfolgt das Ziel, möglichst praxisnah auszubilden, damit Absolvierende nach Abschluss rasch einen Beruf ergreifen können.
Finanzierungsfrage wird ausgelagert
Fachhochschulen und Unis tragen allerdings auch die Verantwortung der Studierbarkeit ihrer Studiengänge. So müssen sie sich u. a. darum bemühen, ein zügiges und erfolgreiches Studium zu ermöglichen und auf die Anforderungen unterschiedlicher Studierendengruppen einzugehen, die sich auch aus Berufstätigkeiten ergeben können.
Doch die Maßnahmen beinhalten derzeit eher Beratungs- und Orientierungshilfen für die Studienwahl, oder zeitlich flexiblere Organisationsformen von Lehrplänen. Die Finanzierung der Pflichtpraktika zählt nicht zur Studierbarkeit. „Ich bin mir der prekären Lebenssituation mancher Studierender durchaus bewusst, “ sagt Bittner dazu. „Aber als Ausbildungsbetrieb sind wir nicht für die soziale Absicherung verantwortlich, sondern für die Qualität der Ausbildung.“
Zudem würden viele Praktika im Sozialbereich bei Non-Profit-Organisationen absolviert, die ausschließlich über Subventionen finanzieren würden. „Müssten sie PraktikantInnen bezahlen, würden mit einem Schlag viele Stellen wegfallen.“ Das Finanzierungsproblem wird damit an Studierende ausgelagert und unbezahlte Praktika von Eltern bezuschusst – was sich vor allem benachteiligend für Studierende aus ärmeren Familien auswirkt.
"Ich brauche eine Pause, aber die kann ich mir nicht leisten
"Ich arbeite derzeit im Praktikum 40 Stunden die Woche in der Klinik, á zwölf Stunden oder länger. Daneben habe ich noch Seminare auf der FH und muss mich für Prüfungen vorbereiten. Außerdem arbeite ich noch zirka acht Stunden die Woche in einem Nebenjob", erzählt eine Hebammen-Studentin dem KURIER. Auch sie möchte ihre Praktikumserfahrungen lieber anonym erzählen.
"Ohne Unterstützung meiner Familie wäre das nie möglich. Aufhören möchte ich nicht, ich will eine gute Bewertung bekommen und fleißig rüberkommen. Aber gleichzeitig muss ich ab und zu auch auf mich schauen. Ich habe jetzt bald Ferien und brauche wirklich eine Pause, aber die kann ich mir eigentlich nicht leisten, weil es die einzige Zeit ist, in der ich Geld verdienen kann.“
72 unbezahlte Wochen
Auch Zahnmedizin-Studierende werden für ihr 72-wöchiges Praktikum am Ende des Studiums nicht bezahlt. „Man arbeitet von früh bis spät, wird unfreundlich behandelt, die Vorgesetzten lassen einen spüren, dass man ein Niemand ist. Und das alles für keinen Cent“, berichtet ein Student, der nur anonym über seine Erfahrungen sprechen möchte.
„Das war psychisch für mich nur schwer zu verkraften, weil es so unfair ist, weil man ausgebeutet wird und sich das nicht gut anfühlt.“ Nach ein paar Monaten habe er sich mit der Situation arrangiert. Er arbeite so gut er kann, und diene das ab. Oft zwölf Stunden pro Tag.
Psychische und finanzielle Bürde
Eren Eryilmaz, der der Studierendenvertretung der Zahnmedizin Wien vorsitzt, weiß, dass die 72 Wochen bei einigen StudienkollegInnen eine große psychische und finanzielle Bürde sind. „Ohne finanzielle Unterstützung ist das nicht machbar. Wer nicht das Glück hat, von der Familie unterstützt zu werden, muss die Wochenarbeitszeit in der Klinik reduzieren, um nebenbei jobben zu können, was wiederum ein längeres Studium zur Folge hat.“
Zahnmedizin-Studierende in Wien können ihr Praktikum nur an der Wiener Zahnklinik absolvieren. Damit gibt es keinen Zugzwang, ein Gehalt zu zahlen.
Die ÖH fordert schon seit Langem eine Vergütung in Höhe des Klinisch Praktischen Jahres (KPJ) der Humanmediziner, die zumindest 650 Euro brutto erhalten. „Das wird von den Krankenhäusern auf freiwilliger Basis bezahlt.“ Von der Zahnklinik Wien heißt es auf Anfrage, dass das Praktikum Teil der Ausbildung und daher nicht bezahlt sei. Dafür würden sämtliche Materialien zur Verfügung gestellt, die Kosten der Ausbildung übernehme der Träger.
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