Lehrer über Umwege: Warum man den Quereinstieg wagt
Ein Satz prägte Leila Babic: „Materielles kann man dir wegnehmen, Wissen kann dir keiner nehmen.“ Seit ihrer Kindheit sagten ihr das ihre Eltern immer wieder, Menschen, die erlebt haben, was er bedeutet. Denn Babic’ Eltern mussten vor vielen Jahren vor dem Krieg in Bosnien nach Österreich fliehen.
Leila Babic verinnerlichte den Satz und wurde strebsam: Sie schrieb gute Noten und studierte nach der Matura Internationale Betriebswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien. „Ich war an Mathematik und Sozialem interessiert. Ich entschied mich für Internationale Betriebswirtschaft, da sich alle anderen Studienrichtungen anfühlten, als wären sie einengend.“
Ich wusste nach fünf Minuten, dass ich bei Teach For Austria teilnehmen möchte. Man könnte fast sagen, ich habe das Studium für Teach For Austria beendet.
Leila Babic absolvierte ihr Bachelor-Studium mit zwei Sprachen, Englisch und Spanisch, machte ein Auslandssemester in Madrid. Außerdem fand sie weiterhin die Zeit, sich für Kinder und Jugendliche mit einem schwierigen sozioökonomischen Hintergrund zu engagieren, so, wie bereits seit ihrem 14. Lebensjahr.
Das Ziel Lehrerin zu werden, fasste sie im Rahmen eines Volunteering@WU-Projekts mit Toni Kronke, dem Chief Program Officer der Initiative Teach For Austria. Dieses Programm ist Leila Babic auf den Leib geschneidert: Sie besuchte selbst eine Brennpunktschule, ist klug, zielstrebig und sozial engagiert. „Ich wusste nach fünf Minuten, dass ich bei Teach For Austria teilnehmen möchte. Man könnte fast sagen, ich habe das Studium für Teach For Austria beendet.“
Plötzlich Lehrerin
1.024 Bewerber zählte Teach For Austria für den Jahrgang 2019. Leila Babic ist eine von 71, die aufgenommen wurden. Die Initiative bildet besonders engagierte Hochschulabsolventen anderer Studienrichtungen aus und vermittelt sie an einen Kindergarten, eine Neue Mittelschule oder eine Polytechnische Schule, wo sie unterrichten und versuchen, Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen, bildungsfernen Familien für Bildung und Schule zu begeistern.
Ich arbeite sehr gerne mit den Kindern. Es ist wahnsinnig schön und auch wahnsinnig anstrengend.
Den Nachteil, mit dem manche Kinder und Jugendliche durch ihre Herkunft starten, will die Organisation ausgleichen oder zumindest vermindern und dadurch mehr Chancengerechtigkeit schaffen.
Seit Anfang September unterrichtet die 24-jährige Leila Babic nun Englisch in mehreren dritten Klassen an der Neuen Mittelschule Aderklaaer Straße im 21. Bezirk in Wien. Ihr Resümee nach wenigen Wochen Lehrerin-Dasein: „Ich arbeite sehr gerne mit den Kindern. Es ist wahnsinnig schön und auch wahnsinnig anstrengend. Ich habe mich noch nie so früh schlafen gelegt, wie derzeit“, sagt sie und lacht.
Viele Wege führen an eine Schule
Wer mit Kindern und Jugendlichen arbeiten will, findet einen Weg, auch ohne ein klassisches Lehramtstudium absolviert zu haben. Teach For Austria ist einer davon. Dass diese Quereinsteiger klassisch ausgebildeten Lehrern in nichts nachstehen, wird von einer Studie bestätigt: Im Rahmen des Projekts „A New Way for New Talents in Teaching“ (NEWTT) wurden Quereinsteiger aus dem Teach-For-Austria-Programm und klassisch ausgebildete Lehrer befragt.
Wie sich zeigte, fühlen sich Quereinsteiger besser auf das Unterrichten vorbereitet und gaben an, dass ihnen das Wissen aus ihrem voran gegangenen Studium hilft, Schülerfragen abseits des eigentlichen Unterrichtsstoffs zu beantworten. Interessant sind auch die Unterschiede in der Motivation für die Berufswahl: Für beide Gruppen ist die Arbeit mit Kindern von großer Bedeutung. Während jedoch bei Lehramtsabsolventen das Interesse am Fach und Jobsicherheit als weitere Hauptmotive dazukommen, ist es bei den Quereinsteigern die soziale Verantwortung.
Der klassische Weg
Der klassische Weg führt über ein Studium an einer pädagogischen Hochschule oder – für die Lehrtätigkeit an einer Allgemein oder Berufsbildende mittlere und höhere Schule (AHS oder BMHS) – an einer Universität. Sind jedoch zu wenige ausgebildete Pädagogen verfügbar, ist ein solcher Abschluss, kein zwingendes Erfordernis, um in einem Klassenzimmer stehen zu dürfen.
Ich habe jeden Tag das Gefühl, etwas Bedeutsames zu machen. Das meine ich tief ernst.
Gerade in Berufsschulen und berufsbildenden Schulen sind Lehrer, die keine klassische pädagogische Ausbildung haben, keine Seltenheit, sondern werden als wertvolle Mitarbeiter beschrieben. Eine HTL oder HAK etwa lebt von den Erfahrungen und Kenntnissen der sogenannten Fachpraktiker und Fachtheoretiker, den Informatikern, Wirtschaftern, Architekten oder etwa Datenbankspezialisten.
"Was ist dein weiterer Lebensweg?"
Auch Helmut Vogl ist Quereinsteiger. In der Privatwirtschaft gilt er wohl als klassischer High Potential: Helmut Vogl studierte Betriebswirtschaft an der WU Wien und Wirtschaftsinformatik an der TU Wien. Er hatte das klare Ziel vor Augen, im großindustriellen Bereich tätig zu sein.
Helmut Vogl erreicht seine Vorhaben in der Regel: Er arbeitete für große Unternehmen wie Sony, verantwortete Projekte, auch im Ausland. 2012 wurde er, wie bereits 2007, als Presseoffizier in den Kosovo gerufen. Dort kam der Richtungswechsel. Er stellte sich die Frage, die wahrscheinlich jeden zu irgendeinem Zeitpunkt im Leben einholt: „Was ist dein weiterer Lebensweg?“
Ein Kamerad brachte ihn auf seine neue Berufung: HAK-Professor werden. Ein Weg der offensichtlich erscheint, wenn Vogl von seiner Motivation, Lehrer zu sein, spricht: „Was ich für mein Leben gerne mache, ist Dinge, für die ich vielleicht sehr lange gebraucht habe, um sie zu verstehen, so zu erklären, dass anderen der Knopf aufgeht.“
Das darf Helmut Vogl nun seit November 2018 an der HTL Wien 5 Spengergasse fünf Tage die Woche bei pubertierenden Jugendlichen versuchen. Er unterrichtet die kaufmännischen Fächer mit vollem Einsatz: „Wenn man seinen Beruf ernst nimmt, dann tut es weh, wenn man einen Schüler verliert und er die Schule abbricht.“
Doch das passiere. Trotzdem erfüllt ihn der Lehrberuf: „Ich habe jeden Tag das Gefühl, etwas Bedeutsames zu machen. Das meine ich tief ernst.“
Warum holt man Quereinsteiger?
Gerhard Hager ist Helmut Vogls Vorgesetzter. Seit 2018 leitet er die HTL Wien 5 Spengergasse, eine von vier technischen Zentrallehranstalten in Wien und die zweitgrößten HTL, 250 Lehrer, 2287 Schüler in 84 Klassen. 15 bis 20 seiner Lehrer kommen jedes Jahr aus Wirtschaft und Technik. Hager macht zwischen den klassisch ausgebildeten Lehrern und den Quereinsteigern keinen Unterschied.
Er betont die Bedeutung beider: „Weder nur die einen noch nur die anderen machen eine gute Schule aus. Die Mischung macht die gute Schule aus. Die einen sind fachpädagogisch und didaktisch gut vorbereitet. Für angehende Techniker sind auch die Fachtheoretiker und Fachpraktiker wichtig. Sie sind am Puls der Zeit, sind für uns wichtige Inputquellen für neue Technologien und Lösungsansätze.“
Interessant ist, dass die Anzahl und die Qualität der Bewerbungen von der allgemeinen Wirtschaftslage abhängt. „Geht es der Wirtschaft gut, haben wir weniger Bewerber, weil dann bleiben sie lieber in der Privatwirtschaft. Geht es der Wirtschaft schlecht, haben wir viele sehr gute Bewerber“, so der Direktor.
2019 sind bei Hager 145 Bewerbungen eingegangen, 40 wurden zu Gesprächen eingeladen. Beinah alle Stellen konnten besetzt werden. Hager ist zufrieden.
Kann jeder Lehrer?
Lehrer werden kann jeder. Doch sollten sich Interessierte darüber im Klaren sein, dass wesentlich mehr dahinter steckt, als 20 Stunden in einer Klasse zu stehen, Frontalunterricht zu halten und Juli und August frei zu feiern. Das Leben von Lehrern ist mit Vor- und Nachbereitung und Weiterbildungen ohnehin so dicht getaktet, wie das eines jeden anderen.
Quereinsteiger an einer HTL, die zumindest vier Jahre Berufserfahrung und einen Bachelorabschluss, eher einen Magister, Master oder Diplomingenieur vorweisen müssen, haben zudem oft noch ein eigenes Unternehmen und sie müssen berufsbegleitend an der Pädagogischen Hochschule studieren. Jeden Mittwoch werden sie für zwei Jahre dafür freigestellt. Nach vier Semestern, in denen sie 60 ECTS Punkte absolvieren und eine Diplomarbeit schreiben müssen, erhalten sie den Titel „Bachelor of Education“. Da Helmut Vogl zu Beginn an einer HAK unterrichten wollte, schloss er das Master-Studium Wirtschaftspädagogik an der WU Wien ab.
Lehrer werden kann jeder.
Doch nicht jeder ist dafür geeignet. Wer Lehrer werden will, sollte, so Vogl, folgende Eigenschaften mitbringen:
1. Sich selbst und andere führen können.
2. Gerecht und präzise sein, Grenzen aufzeigen, aber immer das Menschliche sehen.
3. Die Freude an der Arbeit mit Jugendlichen.
4. Sich organisieren und administrativ arbeiten können.
5. Teamplayer sein.
Wie wird man eigentlich Lehrer?
Der klassische Weg: In Österreich werden Lehrer – je nach angestrebtem Schultyp – an einer der Pädagogischen Hochschulen, einer Universität oder einer privaten Hochschule ausgebildet. Das Bachelorstudium dauert in der Regel acht Semester und umfasst 240 ECTS-Punkte.
Quereinsteiger bekommen durch ihre zumindest vierjährige Berufserfahrung 180 ECTS Punkte angerechnet und müssen in vier Semestern die restlichen 60 ECTS Punkte nachholen. Auf den Bachelor of Education (B.Ed.) wird dann ein viersemestriges Master-Studium angeschlossen, das alle absolvieren müssen, die eine fixe Anstellung haben wollen.
Das Durchschnittsalter der Lehrer ist derzeit relativ hoch: Die Konsequenz ist, dass bis 2025 laut Bildungsministerium 25 Prozent der aktiven Lehrer in Pension gehen werden. Wie der dadurch entstehende Mangel abgefangen werden soll, bleibt noch spannend. Bisher konnte der Bedarf durch klassisch ausgebildete Lehrer und Quereinsteiger gut gedeckt werden.
Teach For Austria: Lehrer der Initiative Teach For Austria sind seit 2012 an Schulen in Österreich aktiv. Für das Programm werden besonders engagierte Hochschulabsolventen ausgewählt, die dann in einer Sommerakademie auf den Unterricht an Neuen Mittelschulen und Polytechnischen Schulen vorbereitet werden. Zum Einsatz kommen sie an Standorten, an denen die Schüler ein hohes Risiko von Bildungsabbruch haben.
Während des zweijährigen Programms finden laufend Fortbildungen statt, etwa die Hälfte der Quereinsteiger bleibt auch nach Programmende für mindestens ein weiteres Jahr an den Schulen. Seit Frühling 2019 werden auch Kindergartenpädagogen vermittelt.
Das Auswahlverfahren ist knackig: Um die 1.000 Bewerber zählt Teach for Austria jedes Jahr. Auf zwei Online-Bewerbungsrunden folgt ein eintägiges Assessment Center. Wer ausgewählt wird, startet in den fünfwöchigen Online Campus. Danach wird eine sechswöchige Sommerakademie absolviert.
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