Im neuen Jahr die Ignoranz ablegen
KURIER: Mehr Druck am Arbeitsplatz und mehr Arbeitslose – so war 2015. Können wir im neuen Jahr entspannen? Die Prognosen sind nicht gerade positiv.
Harry Gatterer: Einer der Trends, der in diesem Jahr den Reifegrad erreicht hat, um wirklich wichtig zu werden, ist das Thema Achtsamkeit. Dieses Themen gärt bereits seit einiger Zeit. Durch unterschiedliche Umstände bekommt es jetzt eine größere Bedeutung.
Welche Umstände sind das?
Unsere Gesellschaft hat einen Punkt erreicht, an dem wir durch die Digitalisierung ständig an Orientierung verlieren. Es sind die Effekte der scheinbar beschleunigten Welt, der Verdichtung des Alltags. Die Menschen sind permanent in mental unterschiedlichen Kontexten unterwegs, sind ständig dem Flirren von Informationen ausgesetzt. Dadurch verlieren sie an Orientierung. Ein Beispiel: Man muss sich die Fotos vom Urlaub ansehen, um alles zu verarbeiten, was man erlebt hat. Wir gehen ins Digitale, um das Reale nachträglich wahrzunehmen. Das ist doch total schräg. Jetzt nimmt der Gegentrend an Dynamik zu.
Heißt das, wir schalten künftig öfter komplett ab?
Nein. Ein Leben außerhalb des Digitalen ist unvorstellbar. Es ist eher eine neue Idee von medialer Kompetenz. Es heißt, dass man diese Technik nutzt. Die Technik schützt uns gewissermaßen vor der Technik.
Im Trendreport sprechen Sie davon, dass sich eine ganze Industrie um das Thema Achtsamkeit bildet. Statt Unternehmensberatern werden Firmen Achtsamkeitsberater engagieren.
Ja. Weil die Einen kommen zwar von außen, aber aus der selben Ecke. Sie verfolgen dieselben Lehren, haben dieselben Charts, die selben strategischen Ideen. Doch das greift jetzt alles nicht mehr. Die Umwelt ist vielschichtiger, komplexer geworden. Dieses Immer-mehr kann man nicht erlösen, in dem man noch effizienter wird. Wenn Sie versuchen es schneller zu erledigen, werden Sie nur schneller erschöpft sein. Ein Problem kann man nicht auf der Ebene lösen, auf der es entsteht. Sie müssen eine Ebene höher gehen, die Welt anders verstehen. Deswegen kommt der Philosoph wieder ins Gespräch, der Achtsamkeitsberater oder derlei, die dabei helfen, einen anderen Blick auf die Welt zu erzeugen. Es geht um einen massiven Perspektivenwechsel.
Können Großunternehmen diesen Perspektivenwechsel leisten?
Da sind wir im nächsten Trend: 2016 wird die Next Economy Thema sein. Im Sinne einer Ökonomie, die nicht mehr alleine auf monetäres Wachstum ausgelegt ist. Es ist nicht mehr diese gottgegebene Grundvoraussetzung.
Worauf ist die nächste Ökonomie dann ausgerichtet?
Wachstum muss mehrdimensional betrachtet werden, nicht nur ökonomisch, sondern es geht um menschliches Wachstum, systemisches Wachstum. Unsere derzeitigen Innovationen basieren auf der Wachstumsidee. Das hat letztlich dazu geführt, dass wahnsinnig viele Innovationen auf dem Markt sind, die eigentlich niemand braucht. Wir haben viel mehr Lösungen als Probleme. Die nächste Ökonomie konzentriert sich auf die Probleme. Es geht um Weiterentwicklung und um die Entwicklung von klugen und smarten Lösungen.
Sind die großen Probleme unserer Zeit sozialer Natur? Stichworte: Vereinsamung, Schere zwischen Arm und Reich, Umverteilung, Integration von Flüchtlingen, etc.
Wir glauben nur, dass das die größten Probleme unserer Zeit sind. Unsere größten Probleme sind aber Wahrnehmungsfehler. Die Frage ist immer, wo man Maß nimmt. Global gesehen hat es noch nie so wenig Armut gegeben, wie heute. Obwohl wir drastisch mehr Menschen sind auf dieser Erdkugel. Die Problemzonen 2016 liegen in der Wahrnehmung. Aufgrund der vielen Informationen können wir oft nicht mehr einordnen wie relevant, wie wahr, wie wichtig diese Informationen sind – und wie sie im Verhältnis zum größeren Ganzen stehen.
Was sind die Hebel um dieses Wahrnehmungsproblem zu beheben?
Wir sind keine Lösungssucher, wir beobachten und sehen. Wir sehen Gegentendenzen wie eben Achtsamkeit und den OMline-Trend (siehe Sub). Denn in dem Moment, in dem man phasenweise aussteigt, sich aus dem Problem rausnimmt, justiert man seine Wahrnehmung neu.
Ihr Appell 2016?
Botschaft Nummer eins ist, dass man diese Ignoranz ablegt. Es ist eine Ignoranz der Zukunft gegenüber. Und eigentlich auch gegenüber der Gegenwart, wie sie wirklich ist. Man muss sich nicht ständig anstecken lassen von der Aufregung. Sondern man kann sich auch mal zurücknehmen.
Der Zukunftsforscher
Das Zukunftsinstitut wurde im Jahr 1997 vom deutschen Journalisten und Trendforscher Matthias Horx in der Nähe von Frankfurt gegründet.
Den Wiener Ableger hat dann Harry Gatterer 2010 ins Leben gerufen.
Sein erstes Unternehmen gründete Harry Gatterer jedoch bereits im Alter von 20 Jahren. Zwei Jahre war er Vorsitzender der der Jungen Wirtschaft. Im Zukunftsinstitut beschäftigt sich Gatterer mit der Zukunft von Leben und Arbeit und Veränderungen in der Gesellschaft.
Das Zukunftsinstitut rund um Gründer Matthias Horx beobachtet die Gegenwart, verarbeitet und analysiert Zahlen und Modelle und zieht daraus Schlüsse für die Zukunft. Dieses Jahr werden sich den Zukunftsforschern nach folgende Trends manifestieren. Sie alle entspringen dem Prinzip der Achtsamkeit, dem Megatrend 2016.
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