Gerald Hüther: „Ohne freie Entfaltung ist das Leben tot“

Gerald Hüther: „Ohne freie Entfaltung ist das Leben tot“
In Hierarchien verlernt der Mensch die Fähigkeit des Gestaltens, glaubt Neurobiologe Gerald Hüther. Warum, erklärt er im Interview.

Das Online-Netzwerk Xing holte im vergangenen März rund 40 Speaker auf die Bühne der Hamburger Elbphilharmonie. Der Tenor der Vorträge und Panels von und mit Querdenkern und Pionieren war: es ist höchste Zeit, die Arbeitswelt mithilfe des New-Work-Ansatzes (Neues Arbeiten) zu verändern. Weg vom reinen Profit und hin zu mehr Gestaltungsfreiheit von Mitarbeitern.

KURIER: Herr Hüther, diese Veranstaltung trägt den Titel „New Work Experience“. Wird man Arbeit in Zukunft wieder mit mehr Erlebnissen verbinden, weil der Mensch in den Mittelpunkt rückt?

Gerald Hüther: Wer in Zukunft noch dieses alte Bild von Arbeit hat, die man ausführt, um Geld zu verdienen, der wird keine Arbeit mehr finden. Was in Zukunft immer mehr gebraucht wird und das wird auch keiner ersetzen können: Menschen die Freude haben am Arbeiten. Der Gärtner der seine Rosen liebt, wird auch in 1.000 Jahren nicht durch Maschinen ersetzbar sein. Aber: Der Gärtner der seinen Dienstplan abarbeitet und mit dem Laub-Bläser auf dem Rücken durch den Garten zieht, den kann man genauso gut durch einen Roboter ersetzen. Hier (auf der New Work Experience, Anm.) kommen all jene Kräfte aus der Wirtschaft zusammen, die sich für die Zukunft neu aufstellen wollen, damit sie uns nicht um die Ohren fliegt.

Trotzdem sind viele in der Arbeitswelt in diesem alten Trott gefangen. Was hemmt uns?

Es ist nicht gut, wenn man in der Arbeit wie ein Objekt behandelt wird. Wenn man keinen Raum zum Gestalten bekommt. Wenn Führungskräfte es nicht schaffen, ihren Mitarbeitern genug Freiraum zu bieten, in dem sie selbstständig und eigenverantwortlich etwas gestalten können. Dann verliert jeder die Lust. Wenn wir nur die Erwartungen anderer erfüllen und versuchen so zu sein wie man uns haben will, machen wir uns selbst auch zu Objekten. Dann ist nichts mehr lebendig.

Was müssten wir ändern?

Ich bin Hirnforscher und kein Wirtschaftsexperte. Ich kann aber durchaus mit dieser Legitimation sagen, was gut wäre – wenigstens fürs Hirn (lacht). Es wäre gut, wenn wir nicht schon in der Schule die Freude am Lernen verlieren. Da müssen junge Menschen rauskommen, denen es Spaß macht , zu arbeiten, zu lernen und zu entwickeln. Sonst kommen kleine Computer heraus. Wenn diese in 20 Jahren anfangen zu arbeiten, haben wir sie auf eine Welt vorbereitet, die es gar nicht mehr geben wird. Wir machen sie ja lebensuntüchtig, mit diesen Prüfungen, Examina und Abschlüssen. Es muss eindringlich an die Öffentlichkeit getragen werden, dass wir an einem sehr tief greifenden Wendepunkt stehen, was das Verständnis von Arbeit betrifft.

Sie sagen, die Freude am Lernen, Gestalten und Entdecken ist angeboren. Was ist mit jenen, die sich damit wohlfühlen? Manchen reicht es nur, zu arbeiten und Geld zu verdienen.

So kommt man nicht auf die Welt. So wird man, wenn man in eine Welt gesetzt wird, in der man absolut nichts gestalten kann und wo andere dauernd die Verantwortung übernehmen. Dann ist das Leben tot, es gibt keine Möglichkeit zur Entfaltung. Ein Beispiel sind Helikopter-Eltern. Das Kind kann nichts selber entscheiden, weil die Mama dauernd wie ein Drache drüber fliegt. Sie meint es vielleicht gut, aber es hilft dem Kind nicht.

In Ihrer Akademie zur Potenzialentfaltung kann man lernen, seine Potenziale zur freien Entfaltung wieder zu entdecken. Wie geht das?

Diese Freude am Entdecken und Gestalten, die ist ja von anderen geraubt worden und nicht von alleine verloren gegangen. Eine Schutzreaktion vor dem Versuch anderer, uns zum Objekt ihrer Bewertungen oder Erwartungen zu machen. Da das also immer im Kontext von sozialen Beziehungen abläuft, gehe ich davon aus, dass es auch nur mit anderen heilbar ist. All diese Versuche, sich selber zu finden, halte ich für sehr gut: man muss bei sich selbst anfangen, aber um es ins Leben zu übersetzen, braucht man die anderen. Wir versuchen, Menschen dabei zu helfen, eine neue Art des Miteinanders zu schaffen.

Ein Beispiel haben Sie in ihrem Buch dargestellt „Wie Träume wahr werden“. Es geht um eine Gruppe von Rennrad-Fahrern, die beim Race Across America teilnehmen wollten und aufgrund von Streitigkeiten im Team zuerst alles abbrechen wollten.

Teamgeist entsteht nicht von allein, das ist eine Entscheidung, die getroffen werden muss. Bei uns in der Akademie melden sich solche Truppen und sagen, es geht nicht mehr so gut bei uns. Und die zentralen Fragen lauten hier: Was wollt ihr alle miteinander erreichen, warum seid ihr eine Gruppe? Es sollte ein Anliegen sein, das allen am Herzen liegt, aber nur mit gemeinsamer Unterstützung erreicht werden kann. Das deutsche Rennrad-Team hat dann trotzdem am Rennen teilgenommen und kam fünf Stunden vor dem amerikanischen ins Ziel.

Funktioniert so ein neues Miteinander auch in den Abteilungen eines großen Unternehmens?

Ja, das haben wir auch beobachtet. Wenn ein Bereich, eine Abteilung, sich entscheidet, anders zu arbeiten und miteinander umzugehen, dann läuft dieses Team wie von alleine. Den Mitarbeitern macht es Freude, Ideen zu entwickeln, kreativ zu sein – sie brauchen keinen Chef mehr. Dieser Prozess kann für die restlichen Mitarbeiter attraktiv werden und sich so im Betrieb ausbreiten.

Aber würde das nicht auch voraussetzen, dass Führungskräfte solche Prozesse unterstützen?

Es gibt viele Führungskräfte, die in Wirklichkeit keine Führungskräfte sind, sondern Bedürftige. Sie brauchen Macht, Einfluss und Bedeutung. Weil sie offenbar aus sich selbst heraus nicht das Gefühl haben, dass sie bedeutsam genug sind und sich ständig Bedeutung verschaffen müssen. Das ist natürlich eine ungünstige Situation.

Vielleicht haben Führungskräfte auch verlernt, ihren Mitarbeitern so viel Freiraum in der Arbeit zu gewähren.

Es soll aber nicht so sein, dass jemand von oben kommt und das durchsetzt. Das funktioniert nicht, weil das wäre ja wieder hierarchisch. Es muss schon inselartig in einem Unternehmen oder von unten her aufgebaut werden und dann nach oben durchdringen. Gleichzeitig muss es aber von den Chefs auch erwünscht sein. Das sind interessante Prozesse, die aber nicht leicht sind, weil sehr viel Veränderung von inneren Einstellungen notwendig ist.

Sie sprechen oft über „Verwicklungen von Arbeit und Lernen“: Arbeiten gehe nicht ohne Lernen, aber die Arbeit wie sie heute ist, sei nicht so wie der Mensch sie eigentlich sucht. Wie schafft man es, sich zu ent-wickeln?

Nach allem was ich bisher gelernt habe, gibt es nur eine Möglichkeit: wenn Menschen sich entwickeln und wieder Verantwortung für sich selbst übernehmen sollen, kann das nur durch Situationen herbeigeführt werden, in denen Menschen mit sich selbst in Berührung kommen. Sie müssen innerlich wieder in Kontakt kommen mit den Fragen, die sie sich schon lange nicht mehr gestellt haben. Welche Person will ich sein? Wofür will ich dieses Leben benutzen? Jeder hat mal nach Antworten auf diese Fragen gesucht.

Gibt es bei all diesen Überlegungen eine Altersbeschränkung?

Nein, das könnte man auch einen Tag bevor man stirbt machen. Es ist nur so: je älter man wird, desto mehr wehrt man sich dagegen, sich auf so eine Berührung einzulassen. Selbst im hohen Alter erinnert man sich daran, wie man sich damals als Kind gefühlt hat, als man mit Begeisterung alles entdeckt hat.

Man hat hier auf der Konferenz das Gefühl bekommen, dass ein Aufbruch herrscht, aber man noch nicht weiß, wohin die Reise geht.

Ja, im Augenblick gibt es viele tastende Versuche, es anders zu machen. Die dynamischen Prozesse in einer Gesellschaft kommen oft von jungen Menschen, weil sie noch nicht in den alten Mustern gefangen sind. Es gab noch nie so eine Generation wie jetzt, die so viel in die eigene Hand nimmt. Greta Thunberg ist ein Beispiel für eine andere Art des Widerstandes: er richtet sich gar nicht gegen jemand. Es ist der Versuch, das Leben anders zu gestalten als wir es gewohnt sind.

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