Es ist Zeit für mehr Zeit

Immer weniger haben Zeit für Zeit.
40 Prozent der erwerbstätigen Österreicher haben zeitlich bedingten Stress. Dabei wäre es ihnen wichtiger, freie Zeit zu haben als beruflichen Erfolg.

Der erste Blick nach dem Aufwachen gilt dem Handy. Beim Warten auf die U-Bahn: Wieder ein Blick auf das Smartphone. Dasselbe beim Anstellen zu Mittag in der Kantine. Jede freie Sekunde wird ausgefüllt, wir sind dauerbeschäftigt. Der Grund: Von klein auf wird uns eingetrichtert, dass wir Leistungen erbringen müssen. Viele haben verlernt, sich Freiräume zu schaffen, in denen sie innehalten und hinterfragen, was ihnen wirklich wichtig ist. Vielmehr laufen die Tage Berufstätiger nach einem Schema ab. Nach der Arbeit noch schnell etwas essen, kurz fernsehen und dann erschöpft ins Bett fallen. Morgen dasselbe. Und täglich grüßt das Murmeltier. "Ob wir es schaffen, ein kleines Stück des Zeitkuchens für uns herauszuschneiden, hängt von den Werten ab, über die wir uns definieren", sagt Franz Schweifer, Zeitforscher und Geschäftsführer des Beratungsinstituts Management-Oase. Und ob es gelingt, uns von fremden Erwartungen zu entkoppeln.

"Ich habe keine Zeit"

Der Stehsatz "Ich habe keine Zeit" ist Synonym für das durchgetaktete Leben geworden. Fast 40 Prozent der Erwerbstätigen leiden häufig oder immer unter zeitlich bedingtem Stress, so das Ergebnis einer Befragung von 10.700 Österreichern im Rahmen des Mikrozensus der Statistik Austria. In der Gastronomie ist das Zeitkorsett am engsten. Dort hat mehr als die Hälfte ständig Stress. Die Arbeitsverdichtung verstärkt diesen Trend. Viele Menschen definieren ihren Erfolg zudem über das Ausgebucht-Sein. Nach dem Motto: Wer keine Zeit hat, ist erfolgreich. Gleichzeitig wünschen sich viele Menschen mehr selbstbestimmte Zeit, so das Ergebnis einer aktuellen Integral-Studie: Über freie Zeit zu verfügen, ist den Österreichern wichtiger als Besitz, Wohlstand und Erfolg im Beruf. Aber ob sie, wenn sie plötzlich mehr Zeit hätten, diese auch genießen können, ist fraglich.

Was macht glücklich?

Dieser Frage sind der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman und sein Ko-Autor Angus Deaton in einer Studie für die Universität Princeton nachgegangen.

Das Ergebnis: Wer mehr verdient, ist für gewöhnlich glücklicher, aber nur bis zu einem Haushaltseinkommen von 60.000 Euro brutto. Ab dieser Grenze bleibt die Lebensqualität mit jedem zusätzlich verdientem Euro gleich. "Vielleicht sind 60.000 Euro auch eine Schwelle, über der es den Menschen nicht mehr möglich ist, das zu tun, was für das emotionale Wohlbefinden am meisten zählt: Zeit mit der Familie verbringen, Krankheit und Schmerz vermeiden oder die freie Zeit genießen", so die Forscher. Das Fazit aus dieser Studie könnte sein: Wir arbeiten nur bis zu diesem Einkommen, wenn dann noch Zeit übrig bleibt, nützen wir sie für uns. Das klingt freilich nach einem Luxusproblem, denn viele Arbeitslose oder Pensionisten haben mehr als ausreichend Zeit, sind aber alles andere als selbstbestimmt.

Im Grunde genommen geht es um einen anderen Umgang mit der Zeit, der wichtigsten Ressource der Menschen. "Wir leben in einer Zeit der rasenden Geschwindigkeiten", sagt Schweifer. "Doch meist ist nicht die Zeit zu knapp, sondern die Bedürfnis-Liste vieler Menschen zu lang." Abhilfe schafft etwa die Auseinandersetzung mit der Frage "Wofür bin ich tatsächlich bereit, Zeit, Liebe,Energie und auch Geld zu investieren? Schweifer ist überzeugt, dass die viel diskutierte 30-Stunden-Woche für viele Menschen Sinn machen könnte. "Allerdings nur dann, wenn nicht versucht wird, diese Zeit wieder mit Beschäftigung zu füllen, sondern wenn sie sinnvoll verwendet wird", betont Schweifer. Als Beispiel nennt er das Pflegen von Ritualen, um ganz bei sich zu sein. Ob dies beim Rückzug in die Stille gelingt, beim Laufen oder beim Kampfsport, beim Musik-Hören oder bei der Gartenarbeit, bleibt jedem selbst überlassen.

Es ist Zeit für mehr Zeit
Privat
Greta Taubert wusste: endlos Zeit haben nur jene, die bereit sind, zu verzichten. Sie hat es versucht und ein Buch darüber geschrieben mit dem Titel: „Im Club der Zeitmillionäre“. Die freiberufliche Journalistin aus Leipzig hat für ein Jahr ihren Job hinter sich gelassen, um Zeit für sich zu haben und nur das zu tun, worauf sie gerade Lust hatte. Es ging nicht darum, sich auf die faule Haut zu legen, sondern um die Befreiung aus Zwängen. Sie hat sich von selbst angebautem Gemüse ernährt und trug ausschließlich Kleidung, die sie nicht selbst gekauft hat, ihr Dekolleté schmückte eine Kette, an der ein Dosendeckel baumelt. Am Ende des Jahres hat sie 15 Kilo abgenommen. Sie fühlte sich freier, das Nichtstun ist ihr aber noch einiger Zeit schwer gefallen. Taubert hat viele Gleichgesinnte, die lieber Zeit als Geld anhäufen, getroffen und ist – reich an glücklichen Momenten – in ihr Berufsleben zurückgekehrt.
Ihr Fazit: Sie hat ihre Bedürfnisse reduziert, macht sich mehr Gedanken über ihre Ernährung, kauft nur noch in Bioläden ein und macht um Supermärkte einen Bogen. Sie spart Geld – und hat es auch geschafft, vermeintlich Wichtiges loszulassen, um mehr Zeit zu haben. Aber: Sie arbeitet auch mehr denn je, und genießt es.
Es ist Zeit für mehr Zeit
honorarfrei, Gerrit von Jorck
Gerrit von Jorck hat sein Wirtschaftsstudium mit Bestnoten abgeschlossen und spricht mehrere Fremdsprachen, darunter Russisch und Türkisch. Dennoch lebt er von 550 Euro im Monat, 280 Euro davon gehen für die Miete des 23--Zimmers in der WG auf. Er arbeitet 13 Stunden in der Woche am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung in Berlin. In seiner Dissertation beschäftigte er sich mit dem Thema Zeitwohlstand im Kontext sozial-ökologischer Transformationen.
Warum er die freie Zeit einem gut dotierten Job vorgezogen hat? Er wollte nicht in den Kreislauf aus Arbeit und Konsum geraten. Über Zeitwohlstand zu verfügen ist ihm wichtiger als finanzieller Wohlstand. Das wenige Geld sieht er nicht als Einschränkung, im Gegenteil: Je weniger er braucht, desto weniger abhängig ist er. Von Jorck fährt mit dem Fahrrad, trägt ausschließlich geschenkte Kleidung und kauft Lebensmittel-Billigmarken. Je weniger Geld er benötigt, desto weniger eingeschränkt fühlt er sich. Kein Streben nach mehr. Er genießt das Aufstehen ohne Wecker, das Gefühl, sich nur nach den eigenen Wünschen richten zu können und nicht nach einem Dienstplan.

– Aufpoppende eMails Werden diese sofort gelesen, wird der Arbeitsprozess immer wieder unterbrochen. Lösung: Im Mailprogramm das automatische Abrufen der Nachrichten deaktivieren und nur alle drei Stunden hineinschauen.

– Unordnung Die Datei lässt sich nicht finden, der Akt steckt unter einem Berg von Dokumenten. Lösung: ein Ordnungssystem schaffen.

– Überkommunikative Kollegen Kaum hat man mit einer Aufgabe begonnen, hat der Kollege eine Frage oder will etwas erzählen. Lösung: Stille Stunde vereinbaren, erst danach wird wieder gesprochen.

– Lange Meetings Nur wenige Meetings führen zum gewünschten Ergebnis. Besser: Reine Infos per Mail ausschicken, nur Themen mit Diskussionsbedarf in Besprechungen abhandeln.

– Lärm und Bürotratsch Die Kollegen tratschen und lachen, und keiner im Raum kann sich mehr konzentrieren. Besser: Rücksicht nehmen.

– Multitasking Wer versucht, vieles zugleich zu erledigen, wird fehleranfällig. Besser: Ein Thema konzentriert behandeln, dann das nächste.

– Privatleben organisieren Mit dem Lehrer des Kindes sprechen, Arzttermin vereinbaren, zur Bank und Post gehen, etc. kostet viel Zeit – muss aber gemacht werden.

– Raucherpausen 4600 Euro jährlich kosten Raucher Unternehmen im Durchschnitt. Denn wer täglich fünf Zigaretten raucht, arbeitet etwa eine Stunde weniger als Nichtraucher-Kollegen.

– Perfektionismus Nicht an unnötigen Details feilen, die niemand gefordert hat und keiner bezahlt. Oft genügt das gute Mittelmaß.

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