Anfang des Jahres packte Verena Bahlsen ihre Koffer, vermietete ihre Wohnung und fuhr in die Alpen. „Ich war in einer Krise, hatte mich episch mit meiner Familie gestritten und unser Familienunternehmen verlassen“, schreibt die Erbin des Keks-Imperiums jetzt in einem Gastartikel in der Zeit. „Ich hatte keine Ahnung, wie es nun beruflich weitergehen sollte – also schienen mir ein paar Monate Einsamkeit wie ein guter erster Schritt.“
Ein Schritt, der nachvollziehbar ist. Denn bevor die Urenkelin des Bahlsen-Gründers die Firma abrupt verließ, plagten sie Panikattacken und Selbstzweifel. Sie zog die Notbremse, entschied sich, den Alltag ohne Ablenkungen in einem Tal mit elf Menschen und 200 Schafen zu bestreiten, Podcasts zu hören und das eigene Leben zu reflektieren.
Pure Idylle, solange man finanziell abgesichert ist. Oder solange das Vertrauen besteht, dass für einen gesorgt ist, auch wenn man selbst vielleicht noch nicht allzu viel dazu beigetragen hat.
Das große Vertrauen ins Erbe
Ein Eliten-Phänomen ist dieses Grundvertrauen längst nicht mehr. Fast jeder fünfte junge Erwachsene verlässt sich darauf, später zu erben, zeigt eine aktuelle Uniqa-Umfrage. Eine deutsche Studie aus 2020 erhebt, dass 40 Prozent der Millennials sogar „schwer getroffen“ wären, wenn sie keine größere Zuwendung in Form einer Erbschaft erhielten. Aus der Luft gegriffen, ist diese Erwartungshaltung nicht.
Eine Berechnung des Momentum-Instituts ging vor zehn Jahren davon aus, dass sich Erbschaften bis 2043 verdoppeln würden. Gültig ist die Annahme noch immer, heißt es auf KURIER-Anfrage. Jedoch sei das mittlerweile die absolute Untergrenze, denn aufgrund des hohen Vermögens der Babyboomer gehe man in den nächsten 30 Jahren von einem ordentlichen Anstieg aus. Finanziell sind viele also besser aufgestellt als je zuvor. Das hat seine Auswirkungen.
Noch in diesem Artikel:
Welche Auswirkungen ein hoher Wohlstand auf den Arbeitsmarkt hat
Wie Menschen mit finanziellem Sicherheitspolster anders entscheiden und arbeiten
Experteninterviews mit Gehaltsexperte Conrad Pramböck, Psychologin Claudia Altmann, Zukunftsforscher Hartwin Maas und Ökonom Stefan Angel
Zahlen, Daten, Fakten zum Wohlstand in Österreich
Die Konsequenzen unseres Wohlstands
Wenn Gehaltsexperte Conrad Pramböck in Schulen über Karrierethemen einen Vortrag hält, gibt es ein Feedback, das ihn jedes Mal ereilt. „Herr Pramböck, gut und schön, was Sie erzählen, aber einmal gescheit geerbt oder geheiratet, erspart ein Leben voll harter Arbeit“, zitiert er die Schüler.
„Es ist interessant, dass manche in die Arbeitswelt eintreten und schon eine Immobilie geerbt haben“, sagt auch der deutsche Zukunftsforscher Hartwin Maas und ergänzt: „Das sind natürlich nicht alle, aber mehr als es früher der Fall war.“ Der Ehrgeiz, sich etwas erarbeiten zu müssen, geht deshalb verloren.
Hinzu kommt, dass sich der Stellenwert von Arbeit und Vermögen nach hinten verlagert hat – zumindest bei den jüngeren Generationen. Weil die einen sich den Wohlstand nicht mehr erarbeiten müssen und die anderen fürchten, mit ihrem durchschnittlichen Erwerbseinkommen sowieso nie am Wohlstand der Vorgängergenerationen anknüpfen zu können und es deshalb gar nicht erst versuchen. Was daraus resultiert?
Es gibt immer weniger, die arbeiten müssen und immer weniger, die arbeiten wollen. Weil der Wohlstand schon so groß ist.
von Conrad Pramböck
„Freizeit hat schon fast denselben Stellenwert wie Arbeit erreicht, deswegen haben wir auch so eine Zunahme bei den Teilzeitquoten“, sagt Maas. Das erkennt auch Arbeitspsychologin Claudia Altmann: „Die, die es sich leisten können, arbeiten weniger.“ Beobachten würde sie das in allen Altersgruppen. „Wenn man keine existenziellen Sorgen hat, kann man natürlich anders entscheiden. Man kann mehr darauf achten, was sinnstiftend ist, muss weniger Kompromisse eingehen und kann sich fragen, was man aushalten möchte und was nicht.“
Etwas Aushalten will jedoch gelernt sein, weiß Hartwin Maas. Allerdings würden Eltern ihren Kindern das durch den vorherrschenden Wohlstand konsequent abtrainieren. Indem sie zu stark Einfluss nehmen, wenig zutrauen, Kinder nichts mehr für sich selbst erarbeiten lassen. „Wenn Eltern immer und überall involviert sind und Konflikte aus dem Weg räumen, sprechen wir von selbst erlernter Hilflosigkeit“, so Maas. Sogar in Finanzfragen sollen Eltern deshalb die erste Anlaufstelle sein, belegen Studien – egal ob sich diese als besonders geschickt im Umgang mit Geld erwiesen haben.
„Der Rahmen, in dem Kinder sich bewegen, ist vorgegeben, sie lernen nicht mehr, ihn selbst zu gestalten“, sagt Maas. Das würde zu mangelnder Kritikfähigkeit führen. Denn geht etwas schief, liegt es am Rahmen, der für sie geschaffen wurde. „Man sucht nicht die Schuld bei sich, sondern bei anderen. Beschwert sich, dass einem etwas nicht gezeigt oder an der Uni unterrichtet wurde.“ Man käme mit gewissen Erwartungen und werden diese nicht erfüllt, geht man woanders hin, sofern man es sich leisten kann, schlussfolgert Maas. „Das befördert eine höhere Fluktuation.“
Risikofreudig zum Unternehmer
Mit Sicherheitspolster würde man jedoch auch risikofreudiger werden, beobachtet Conrad Pramböck. Man würde sich eher trauen, etwas Neues auszuprobieren. „Finanzen verstärken den persönlichen Lifestyle“, sagt Pramböck. Arbeiten sei Teil dieses Lifestyles, weshalb nur die wenigsten, die finanziell die Möglichkeit hätten, gar nicht arbeiten. „Es geht um den Respekt zu einem selbst. Arbeitet man nicht, hat man keinen.“
Auch wissenschaftlich ließe sich dieser Eindruck belegen, erklärt Wifo-Ökonom Stefan Angel. „Wenn es um Selbstständigkeit und Entrepreneurship geht, kann man den umgekehrten Effekt beobachten. Dass Leute, die Erbschaften oder Schenkungen bekommen, eher bereit sind, sich selbstständig zu machen. Auch weil sie natürlich mehr Liquidität haben.“
Eine 2021 veröffentlichte britische Studie zeigt, dass die Bedeutung von Erbschaft enorm zunimmt. Machte das Erbe bei Babyboomern noch 9 % des Lebenseinkommens aus, sind es bei Millennials bereits 16 %. Die Tendenz für Folgegenerationen ist steigend
624 Milliarden Euro Erbvolumen sollen sich in den nächsten 30 Jahren in Österreich anhäufen, erhebt das Momentum-Institut
Schenkungen und Erbschaften haben aktuell einen durchschnittlichen Wert von 275.000 Euro. Die obersten 10 Prozent erben sogar 410.000 Euro, die unteren jedoch nur 20.000 Euro
Wohlstand lässt sich gut am BIP ablesen. Dieses ist bis auf 2020 kontinuierlich gestiegen und lag 2022 bei rund 448 Mrd. Euro
Entwarnung vor dem Untergang
„Das ist das Schöne an unserer Gesellschaft. Wir können es uns aussuchen“, sagt Hartwin Maas. „Wir können es uns mittlerweile leisten, über Arbeit zu diskutieren und sie anders zu gestalten.“ Dass uns der Wohlstand irgendwann auf den Kopf fällt und deshalb überhaupt niemand mehr arbeiten möchte, fürchtet unter den KURIER-Gesprächspartnern nur Conrad Pramböck.
Gesamtwirtschaftlich gesehen, sei diese Sorge jedoch nicht akut, entwarnt Ökonom Angel. „Weil ein Großteil der Leute, die erben, nicht so viel bekommt. Nur wenige bekommen einen sechsstelligen Betrag vermacht. Die untersten zehn Prozent kriegen im Schnitt 20.000 Euro.“
Auch aus psychologischer Perspektive müsse man sich in der Arbeitswelt vor den sogenannten „Erbengenerationen“ nicht fürchten, sagt Claudia Altmann. „Es gibt ein menschliches Bedürfnis nach Sinn im Leben. Etwas bewirken zu wollen und eine Berechtigung in der Gesellschaft zu haben“, erklärt die Psychologin. „Das ist nicht nur dem materiellen Vermögen geschuldet. Sonst würden Menschen, die reich sind und nicht arbeiten müssten, auch nichts mehr tun. Aber so ist es ja nicht.“
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