Die Entspannung, die ich meine
Einatmen, Schritt, ausatmen, Schritt. Monoton. Stundenlang die gleiche Abfolge. Auf 3000, 4000, 5000 Metern Höhe wird das Luftholen zum zentralen Anliegen. Es geht allein um den nächsten Atemzug. Nichts anderes ist wichtig.
Zu Beginn des Aufstiegs liegen die Prioritäten noch woanders. Man denkt. Unten im Tal lässt sich das Denken nicht abschalten. Man analysiert unwillkürlich, geht Projekte durch, grübelt über Kollegen, ärgert sich. Ein konfuses Wirrwarr an Überlegungen – so lange, bis die Anstrengung die Gedanken auslöscht. Das passiert plötzlich und von selbst, es lässt sich nicht herbeiführen. Wenn man höher den Berg hinaufsteigt, immer weiter weg geht von allem Vertrauten, wenn die Natur mit ihrer mächtigen Stille wirkt, dann wird es in einem selbst auch immer ruhiger. Bis zum Moment des Nullpunkts – wenn plötzlich nichts mehr im Kopf ist, der Alltag ganz klein wird. Die totale Relativierung.
Am Berg reduziert man sich auf wenig: die körperliche Anstrengung dominiert, Ausdauer und Kraft sind auf die Probe gestellt, der Wärme-Haushalt ist entscheidend. Wie geht’s der Puste? Wie geht’s dem Knie? Sind Zehen und Finger warm? Hält das Wetter? Wo verlaufen die Gletscherspalten? Da bleiben keine gedanklichen Reserven für den jüngsten Bürogossip. Berg und Natur sind die Lehrmeister fürs Abschalten: Sie dominieren dich so lange, bis die volle Aufmerksamkeit dem Hier, dem Jetzt gilt, alle anderen Gedanken vertrieben sind.
Grün gibt Kraft
Was jeder Bergwanderer, Mountainbiker und Waldläufer selbst wahrnehmen kann, wird in zahllosen Studien bestätigt: Natur entspannt, Grünraum wirkt positiv auf Körper und Geist, der Wald hat eine gesundheitsfördernde Wirkung. Seit Jahrzehnten werden Untersuchungen dazu gemacht, die letzte große im Wissenschaftsmagazin BioScience (vom American Institute of Biological Sciences), in der analysiert wurde, wie viel Natur der Mensch braucht. Eine spannende Frage, vor allem vor dem Hintergrund, dass heute mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten lebt, laut Weltgesundheitsorganisation in 30 Jahren sogar 70 Prozent der Menschen in Städten leben werden – entkoppelt von Grünflächen, Wald, Berg und Seen. Ein Stadtleben mit allem Stress, den das urbane Umfeld bringt. Dazu der Stress des Arbeitslebens.
Und wo bleibt der Mensch? Sein Ausgleich? Der BioScience-Bericht zeigt: Natur wirkt – und zwar innerhalb kurzer Zeit. Nach fünf Minuten Bewegung in der Natur steigert sich das Selbstwertgefühl, die psychische Erholung beginnt. Nach 20 Minuten fühlen sich Menschen lebendiger, frischer, weniger erschöpft. Stress wird reduziert, die Konzentration gefördert, das subjektive Wohlbefinden gesteigert. Sogar der alleinige Blick aus dem (Büro-)Fenster ins Grüne soll – auch das ist wissenschaftlich belegt – schon positive Auswirkungen auf Körper und Geist haben.
Erkenntnisse, die nicht sonderlich überraschen. Die schon in den Botschaften unserer Urgroßmütter ihren Niederschlag fanden: Geh an die frische Luft. Beweg dich, das hält agil. Ein Tapetenwechsel schafft einen neuen Blick auf die Dinge.
Aber trotz allem Wissen und Spüren: Viele tauchen aus Job Stress, Druck und ständiger Verfügbarkeit nicht mehr auf. Sie laufen auf Hochtouren, ohne Pause, laufen davon. Auch das lässt der Berg im übrigen nicht zu: Weglaufen ist hier unmöglich (viel zu steil, viel zu weit). Die Auseinandersetzung mit sich selbst somit unumgänglich. Ohne Gedanken und völlig bei sich: Das ist die größtmögliche Freiheit, die schönste Erholung.
Meditationsleiter Wolfgang erzählt mir vom Leben Buddhas vor 2525 Jahren. Ich bin in Sachen Buddhismus ein Rookie und bekomme einen Einführungsvortrag im Buddhistischen Diamantweg-Zentrum in Wien. Ein erfahrener Gast gesellt sich dazu und erzählt: „Früher habe ich mir gedacht, mein Chef ist ein A..loch. Seit ich meditiere, denke ich mir: Er hat vielleicht einfach nur Streit mit seiner Frau.“ Gelassenheit, innere Ruhe und Mitgefühl sind nur einige Konsequenzen der Meditation. „Die buddhistische Meditation hat entspannende Wirkung, doch das Ziel ist Erleuchtung“, sagt Wolfgang.
Später meditieren wir in der Gruppe auf den 16. Karmapa, einen Guru (Lama) des tibetischen Buddhismus. Über die Meditation sollen wir unsere ersten Schritte in Richtung Erleuchtung gehen. Nachdem ich eine halbe Stunde Wolfgangs Worten gelauscht und die inneren Bilder betrachtet habe, fühle ich mich zwar längst nicht erleuchtet, aber dafür tatsächlich tiefenentspannt.
Früher wurde man für den Yogi-Sitz und den entrückten Blick belächelt. Doch Meditation ist heute nichts mehr nur für esoterisch abgehobene Sinnsucher und sektoide Götteranbeter. Die Meditation hat auch das Business erreicht. „Wie wollen Sie Ihren Stress beherrschen, wenn Sie Mühe haben, Ihre Gedanken zu beherrschen?“, fragt Meditationslehrer und Gründer des Instituts für Leadership und Meditation in Wien, Friedhelm Boschert, auf seiner Webseite. In seinen Seminaren üben Führungskräfte Zenmeditation und Achtsamkeit. Den Blick nach innen zu richten, die Gedanken vorbeiziehen zu lassen, ist die große Herausforderung. Doch wer lernt, die Macht über seine Gedanken zu haben, hat die Macht über sein Leben.
Neuro statt Eso
Aus dem Eso-Eck befreit wurde die Meditation in den vergangenen Jahren von den Neurowissenschaften. Dass sie auf den Stoffwechsel wirkt, konnten Forschungen bereits beweisen: Meditation setzt körpereigenes Morphium frei, dadurch werden Pulsschlag, Atemfrequenz und Blutdruck gesenkt. Und nicht nur das: Laut aktuellen Forschungen der Neurowissenschaftlerin Sara Lazar von der Harvard Medical School haben Menschen mit langjähriger Meditationserfahrung ein anderes Gehirn als jene ohne. Hirnscans zeigten, dass sie mehr graue Substanz haben, etwa im frontalen Cortex, der für Entscheidungen zuständig ist. Lazar steckte zudem Menschen ohne Meditationserfahrung in ein achtwöchiges Achtsamkeitsseminar. Danach war deren Amygdala, die für Angst und Stress zuständig ist, deutlich geschrumpft, ihr Stresslevel war gesenkt. Auch der linke Hippocampus – für Lernen, Gedächtnis und Gefühlsregulierung zuständig – wurde gestärkt. Die Forscherin empfiehlt, täglich 30 Minuten zu meditieren. Buddha im Tages-Abo ist mir zwar zu viel – das Diamantweg-Zentrum werde ich jedenfalls wieder besuchen.
Freitagabend. Die Woche war aufregend und anstrengend. Die Batterien sind halb leer, die Lust, einfach auf der Couch niederzusacken, am Zenit. Es kostet Überwindung, tut aber gut: Rausgehen. Gutes Essen mit Freund und Freunden, ein Bier, Musik. Ins Kabarett, auf ein Konzert, eine Vernissage oder einen Spaziergang in guter Gesellschaft. Die ganze Nacht aufbleiben, übers Leben sinnieren oder einfach auch mal nichts reden – und tanzen.
Eine deutsche Studie zeigte vor drei Jahren: dieses Verhalten wird immer seltener. Wir haben verlernt zu genießen. Wir nehmen Glücksmomente kaum mehr wahr, mäßigen uns ständig. Auch der Wiener Kulturwissenschaftler Robert Pfaller sagt in seinem Buch „Wofür es sich zu leben lohnt“, wir wären prüde, nur mehr auf Kosteneffizienz, Sicherheit und Gesundheit bedacht. Unser Alltag würde weichgespült.
Erholung durch Genuss
Viel Zeit bleibt für den Genuss im Alltag ja oft nicht. Ich verlagere den Genuss meist in den Abend, dorthin, wo die Erholung von der Arbeit stattfindet. Man genießt dann Kultur, Kulinarik oder Gespräch – und der Alltagsdruck verfliegt dabei. Eine Umfrage des deutschen Portals statista.de zeigt: 72 Prozent der Befragten empfinden das Ausgehen als entspannend.
Laut Glückforschern ist „Sich etwas gönnen“ sogar ein wesentlicher Schritt zur Zufriedenheit – über den Genuss werden Glückshormone ausgeschüttet: „Wenn ich wirklich genieße, bin ich im Hier und Jetzt. Dann beschäftige ich mich mit dem Schönen, denke an nichts Negatives mehr – das entspannt, schneller sogar als Meditieren“, erklärt Silena Sabine Piotrowski, Unternehmensberaterin und Psychologin. Nur in Maßen müsse der Genuss bleiben.
Wie steht es mit Gesellschaft beim Erholen – tut die gut? Die deutsche Urlaubsforscherin Sabine Sonnentag sagt Ja. Ruhe ist für den Stressabbau nicht unbedingt notwendig. Trifft man Menschen, die einen mögen, ist man hinterher leistungsfähiger, positiver, zudem wird dadurch das Selbstwertgefühl gestärkt – aus dieser Kombination beziehe man Kraft. Geselligkeit helfe zudem bei Traurigkeit. Das Risiko, in eine Depression zu verfallen soll sinken, wenn man von genügend „gesunden“ Freunden umgeben ist, zeigt eine Studie der englischen University of Warwick.
Der Genuss beim Ausgehen scheint im Alltag zwar Erholung zu spenden. Laut einer Meinungsraum-Studie würden aber nur die Wenigsten in einer längeren Erholungsphase – ihrem Urlaub – tatsächlich auch noch Party machen wollen.
Stimmen Lust, Zeit und Finanzen, ist es aber offenbar besser rauszugehen, als zu Hause zu entspannen, glaubt man der Studie „The guilty couch potato“. Sie zeigt: Die Falle, in der man vermeintlich Ruhe findet – die Couch vor dem Fernseher – bringt einem eher Schuldgefühle ein. Schuldgefühle darüber, seine Erholung nicht schöner, sinnvoller und genussvoller gestaltet zu haben.
In Lateinamerika zählen Jahrhunderte alte schamanische Rituale zu beliebten Entspannungstechniken, auch Ärzte und Psychologen empfehlen sie heute. Schamanismus gilt als älteste Heilmethode für Körper und Geist, sie erdet und ermöglicht eine Reise in unser Inneres. Sie wird mit Trommel- oder Musikbegleitung praktiziert, durch die Trance in die man kippt, entsteht neue Energie.
Aus Australien stammt die Entspannungsmethode Chi-Ball. Man trainiert hierbei mit einem Ball, der duftet. Das regt die Sinne an, entspannt, Atmung und Körperwahrnehmung lassen das „Chi“ wieder fließen.
Eine Entspannungstechnik, die weltweit gut ankommt: In Bädern ausruhen. Die Finnen entspannen in Saunas, die Türken haben das Hamam, in Japan trifft man sich in traditionellen Sentos-Badehäusern, die Russen gießen in ihren Banja-Dampfbädern auf und in Island badet man in heißen vulkanischen Quellen. In Estland badet man manchmal sogar in Bier – Zum Wohl!
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