Zurück zu Mama: Warum das für viele junge Menschen wieder eine Option ist
Die Umzugskartons sind gepackt, die Eltern verabschiedet und der Schlüssel zur eigenen Wohnung steckt in der Tür. Für viele junge Leute ist das der erste richtige Schritt in den sogenannten Ernst des Lebens – und in die große Freiheit. „Flügge werden“ gehört zum Erwachsensein dazu, weiß Entwicklungspsychologin Ulrike Sirsch von der Universität Wien. Das bestätigt auch die hochschulpolitische Referentin der Arbeiterkammer Wien Dora Jandl: „Die erste eigene Wohnung, oder das erste WG-Zimmer, vergisst man nicht. Es ist ein wichtiger Lebensabschnitt, den man nicht missen möchte.“ Trotzdem ist es alles andere als einfach, das sichere Nest zu verlassen.
Ab wann wollen junge Menschen überhaupt ausziehen und welchen Druck bringt die neue Freiheit mit sich? Und was macht das mit der Eltern-Kind-Beziehung?
Alleine leben war für mich kein großer Sicherheitsverlust, da ich noch von meinen Eltern unterstützt werde
Endlich allein
Um Gründe fürs Ausziehen zu finden, braucht es keine Fantasie. Vielleicht ist die Uni fürs Pendeln zu weit, die Wohnung der Eltern zu klein, das eigene Kinderzimmer ein Liebeskiller – oder man hat es schlicht und einfach satt, dass jemand unangekündigt durch die Tür platzt. Für den Studenten Cedric T. (26) war es vor allem der Wunsch nach einer neuen Erfahrung. Vor einem halben Jahr ist er in eine eigene Wohnung gezogen.
„Nach einem langen Tag habe ich oft nicht die Energie für soziale Situationen und will lieber alleine für mich sein.“ Der Wunsch nach Privatsphäre sei für Sirsch ein ganz normaler Entwicklungsschritt. Das selbstständige Leben erfülle sogar ein psychologisches Grundbedürfnis. Nämlich den Wunsch nach Autonomie. Was das konkret bedeutet?
Ich habe das Glück, mir mehr Zeit zum Lernen nehmen zu können, ohne den finanziellen Druck Miete zahlen zu müssen
„Man kann Alltagsroutinen alleine bewältigen, Entscheidungen für sich treffen und Alternativen entsprechend bewerten. Und: Man fühlt sich nicht schlecht, wenn man eine Entscheidung anders trifft, als die Eltern es sich gewünscht hätten“, erklärt Sirsch. Das ist ein Schlüsselpunkt, wie sie anmerkt. Denn erst durch eine gewisse Distanz erreicht man auch Unabhängigkeit. „Das hierarchische Verhältnis zwischen Eltern und Kind muss sich auf Augenhöhe verschieben, damit diese Bedürfnisse erfüllt werden können.“
Wegziehen könne also die persönliche Weiterentwicklung „ordentlich voran katapultieren“. Wäre da nicht eine „kleine“ Sache, die jungen Leuten oft einen Strich durch die Rechnung macht. „Nur weil man ausziehen will, heißt es noch lange nicht, dass man das auch kann“, weiß Sirsch.
Der Preis der Freiheit
Obwohl die Jugend sich heute sogar früher vom Elternhaus entkoppelt, sind ihre Möglichkeiten beschränkt, erklärt der Soziologe Christoph Reinprecht. „Junge Leute, die von zu Hause ausziehen, sind am stärksten von den Preisentwicklungen am Wohnungsmarkt betroffen. Es wird zunehmend schwierig, leistbare Wohnungen zu finden“, sagt er. Dabei verdienen die Jungen gar nicht so schlecht. Rund 2.900 Euro brutto springen laut Stepstone-Gehaltsreport 2023 für voll ausgebildete Vollzeit-Berufseinsteiger raus. Das Problem: die Mietaufwendungen sind wesentlich stärker gestiegen als der Verbraucherpreisindex, wie das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo) schon seit Jahren beobachtet.
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Eine Entwicklung, die auch Studierende spüren. Die Ergebnisse einer aktuellen IFES-Befragung im Auftrag von der Arbeiterkammer (AK) und er Österreichischen Hochschülerschaft (ÖH) verdeutlichen das. Im Schnitt geben Studierende 43 Prozent ihres Monatsbudgets für Wohnkosten aus. Das ist mehr als doppelt so hoch wie der Österreichschnitt.
Gewisse Wohn-Standards könne man dadurch nicht mehr halten, berichtet AK-Referentin, Dora Jandl. „Man muss hinten und vorne sparen.“ So würden manche Studierende ihre Wohnung nicht mehr heizen und jeder dritte teilzeitangestellte Student stockt seine Arbeitsstunden auf – was wiederum negative Folgen auf ihr Studium hat, heißt es in einer Aussendung der AK.
Die Suche nach der ersten eigenen Wohnung oder nach einem WG-Zimmer kann aufregend, durch die neue (finanzielle) Herausforderung aber auch beängstigend sein. Damit alles glatt läuft, sollte man sich vor allem mit den Geld-Agenden auseinandersetzen, erklärt Entwicklungspsychologin Ulrike Sirsch. Der Grund, warum sie das Finanz-Thema so unterstreicht, sei eine auffällige Wissenslücke.
Aus Interesse erkundigt sie sich immer wieder bei ihren Studierenden, ob oder wie oft sie mit ihren Eltern über Geld reden. Das Ergebnis: „Nur ein Teil spricht mit ihren Eltern über Finanzen.“ Dabei sei es ein wichtiges Thema. „Wenn ein guter und informierter Umgang mit Finanzen vorgelebt wird, sind die Jungen später nicht überrascht.“ Sie empfiehlt außerdem auch mit Freunden solche Themen zu besprechen: „Man kann voneinander viel lernen.“
Man kommt nur schwer wieder aus dem WG-Leben raus, weil alles andere noch teurer ist
Wohngemeinschaften (WGs) wirken da wie ein Fels in der Brandung. „WGs sind billiger und es ist weniger beängstigend, zusammenzuleben. Vor allem wenn man das erste Mal außerhalb des Elternhauses wohnt“, sagt etwa die 25-jährige Dvira B. zum KURIER. Rund ein Drittel der Studierenden in Österreich leben in einer WG mit ein bis zwei Mitbewohnern, heißt es in einer Umfrage der Studierenden-App „Studo“.
Eine Lösung, die sich nur bedingt gut hält. Den Wohn-Trend sollen nämlich auch Vermieter bemerkt haben, so Christoph Reinprecht: „Sie sehen WGs als Wirtschaftsmodell. Für Zimmer werden deshalb teils 500 Euro verlangt“ – kein studentenfreundlicher Preis. Eine andere Wahl hat man selten, erklärt Dvira B.: „Man kommt schwer wieder aus dem WG-Leben raus, weil alles andere noch teurer ist.“
Einigen bleibt also nichts anderes übrig als zu Hause bei den Eltern zu bleiben.
Glückliche Nesthocker
Karla P. lebt gemeinsam mit ihren Eltern in einer Wohnung – und ist mehr als zufrieden. „Meine Eltern wohnen in der gleichen Stadt, in der auch meine Uni ist und wir haben viel Platz“, erzählt sie. Ihre Situation passe zurzeit gut zu ihrem Lebensstil. „Ich kann mir mehr Zeit zum Lernen nehmen, ohne dem finanziellen Druck, Miete zahlen zu müssen.“ Warum also wegziehen, wenn es Zuhause auch nett ist?
„Wir beobachten schon seit vielen Jahren, dass junge Leute länger zu Hause bleiben. Der Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter ist länger geworden“, sagt Reinprecht. Ein Report vom Familienministerium kann diesen Trend auch beziffern. Bei rund 152.000 Paaren ist das jüngste Kind im Haushalt zumindest 25 Jahre alt. In Österreich fliegen laut Eurostat Kinder im Durchschnitt mit 25,3 Jahren aus. Männer blieben dabei tendenziell länger als Frauen.
Abgesehen von den hohen Kosten nennt Ulrike Sirsch die längere Ausbildung und den dadurch verspäteten Einstieg ins Berufsleben als Gründe für den Trend. Reinprecht beobachtet aber noch etwas anderes: „Eltern sind nicht mehr so autoritär wie früher und das Rollenverständnis ist nicht mehr so streng.“ Das ermögliche ein kooperatives Verhältnis und „man bleibt gerne länger zu Hause, wenn man sich besser verträgt.“
Junge Erwachsene würden deswegen auch das Kinderzimmer im Elternhaus nicht gänzlich aufgeben und etwa an Wochenenden zurückkommen. „Ganz im Gegensatz zu der 68er-Generation, die den Bruch zu ihren Eltern damals zelebriert hat“, erklärt er. Dass Kinder immer länger bei ihren Eltern leben, könne man laut Sirsch auch positiv sehen: „Ein Mehrgenerationenhaushalt, ein miteinander Leben und füreinander Sorgen kann sehr schön sein.“
Kein Zurück mehr
Für viele junge Leute spannt sich durch die gute Beziehung zu ihren Eltern eine Art Sicherheitsnetz auf. Die als besonders sprunghaft bekannten jungen Generationen können nach Belieben „aus der Arbeit, aus Beziehungen und eben auch aus Wohnungen“ rein und wieder raus springen, erklärt Reinprecht. „Die Flexibilität ist stärker geworden und dadurch öffnen sich viele neue Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten.“ Gleichzeitig könne aber genau diese Flexibilität das Streben nach Autonomie erschweren.
Reinprecht erklärt es so: „Es macht einen Unterschied, wenn man von seinen Eltern so unterstützt wird. Zu wissen, dass man im schlimmsten Fall, wieder nach Hause ziehen kann, nimmt viel Angst.“ Aber man verliert auch etwas Eigenständigkeit. „Wenn man auf eigenen Beinen steht, kann man an dieser Herausforderung wachsen“, fasst Ulrike Sirsch zusammen.
Für Student Cedric T. ist jedenfalls klar, dass zurückziehen zu den Eltern keine Option darstellt. „Da wäre es für mich eher vorstellbar, zusätzliche Jobs anzunehmen und wieder in eine WG zu ziehen.“
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