Aussteiger: Kein Stress statt Karriere

Aussteiger: Kein Stress statt Karriere
Lisa und Michael wollen keinen Stress, keine Karriere. Sie leben das Modell Selbstversorger.

So ist ein Leben schön: Aufstehen, wenn man ausgeschlafen ist. Arbeiten, was Freude macht. In der Natur sein, Gemüse und Obst anbauen, den Pflanzen beim Wachsen zusehen. "Das Geräusch des Windes ist der größte Luxus" sagt Michael Hartl, 33. Mit seiner Freundin Lisa Pfleger, 24, hat er die Geschäftigkeit der Stadt, den Stress und regelmäßiges Einkommen gegen einen Hof im Burgenland getauscht. Dort bastelt Pfleger Hula-Hoop-Reifen, schreibt ihre Abschlussarbeit in Umweltpädagogik und Kochbücher. Hartl ist Projektleiter und gestaltet Kampagnen für NGOs. Von seinem Lebenskonzept erzählt das Paar auf experimentselbstversorgung.net. Es findet Anklang: Auf Facebook haben sie 65.000 Fans.

Wann haben Sie den Entschluss gefasst, nicht mehr Teil des Systems sein zu wollen?

Michael Hartl: Ich will Teil des Systems sein. Ich will jedoch, dass sich das System in manchen Dingen ändert.

Lisa Pfleger: Ich habe im Büro, in einem Café und als Kassierin gejobbt. Das hat mir aber keinen Spaß gemacht. Ich war mit 20, wie viele in diesem Alter, auf der Suche. Ich wollte eine Alternative zum 40-Stunden-Irrsinn. Dann habe ich bemerkt, ich brauche nicht viel Materielles zum Leben und muss somit nicht so viel arbeiten.

Was bedeutet Arbeit für Sie?

Michael: Für mich ist der Begriff Arbeit völlig neutral. Erich Fromm hat mal gesagt, dass Arbeit eher fremdbestimmt ist und daher passiv. Produktives Tätigsein hingegen ist selbstbestimmt und aktiv. Hier ist man sich selbst näher, wodurch die Tätigkeit keine Belastung mehr darstellt, sondern Freude erzeugt.

Kann man jemals völlig selbstbestimmt und autark sein?

Michael: Ich habe mir in den vergangenen Jahren erarbeitet, dass ich produktiv tätig sein kann, mir meine Projekte aussuchen kann. Wir halten uns für sehr autark, aber wir optimieren unser Konzept immer weiter.

Sie haben in einem Interview gesagt: Wenn Menschen auf volle 40 Stunden Arbeit verzichten würden, könnten mehr Menschen in Firmen eingestellt werden, so gäbe es weniger Arbeitslosigkeit. Ist das realistisch?

Michael: Ich glaube an die 20-Stunden-Woche: 20 Stunden klassische Arbeit und 20 Stunden Subsistenz-Leistungen. Das kann in unserem Fall sein, Gemüse anzubauen. Jemand anderer kann alte Computer reparieren. Wenn weniger gekauft wird, muss weniger produziert werden – und so reduziert sich die Arbeit sukzessive.

Sind die Motive zu arbeiten heute die falschen?

Michael: Ja. Es geht in unserer Gesellschaft immer darum, die schönere Sandburg zu bauen, bessere Noten zu bekommen, mehr zu verdienen und nicht um kreative Gedanken oder ob du ein ausgeglichener Mensch bist. Wir orientieren uns nicht an Kriterien, die uns zufrieden und glücklich machen. Hat man die richtigen Motive, wird man zu nichts gezwungen. Es wäre schön, mehr bedürfnissorientiert zu handeln, nicht nur nach dem Leistungsmaßstab.

Was mögen Sie nicht an der Arbeit?

Lisa: Das Gefühl zu haben, ich muss.

Müssen Sie nicht auch hier Dinge tun, die nicht nur Spaß machen?

Lisa: Voll. Aber dann versuche ich, das zu ändern. Wenn ich das Gefühl habe, ich will eigentlich etwas im Garten machen, aber ich bin damit beschäftigt, Hula-Hoop-Reifen zu bauen und mir das zu viel wird, dann versuche ich die Arbeit abzugeben. Ich habe jetzt eine Person gefunden, die mich dabei unterstützt.

Manche Menschen können sich das nicht leisten. Sie müssen arbeiten gehen, weil sie alleinerziehend sind, Eltern betreuen müssen etc. Denken Sie, stößt Ihre Haltung manchmal auf Unverständnis?

Lisa: Bestimmt.

Was sagen Sie diesen Menschen?

Lisa: Mir tut es leid, wenn sie die Hoffnung verlieren, etwas ändern zu können.

Michael: Menschen, die Kinder haben, wollten diese Verantwortung. Man muss sich für ein Leben bewusst entscheiden. Ich glaube, dass in unserem Land die große Masse die Möglichkeit hat, ihr Leben selbst zu gestalten. Niemand ist gezwungen ein Auto zu besitzen, in den Urlaub zu fahren, zu rauchen, Cola und Bier zu trinken. Man kann uns nicht vorhalten, privilegiert zu sein, nur weil wir früh begonnen haben, zielgerichtete Entscheidungen zu treffen und andere das nicht getan haben.

Sie arbeiten als Projektmanager – wie wichtig ist Ihnen das Image der Firma, für die Sie arbeiten?

Michael: Es kommt für mich auf die Aussage des Projekts an. Ich würde alles machen, wenn ich keine andere Möglichkeit habe. Bevor ich die Hilfe der Gesellschaft annehme, würde ich mich freuen, in einem Supermarkt im nächsten Ort putzen zu können. Das wird zwar in der Hierarchie der Berufe schlecht bewertet, aber so eine Arbeit zu machen ist doch herrlich.

Da würde Ihnen manche Reinigungskraft widersprechen.

Michael: Weil wir in einer Gesellschaft leben, in der wir sagen, der Job einer Putzfrau oder Kassierin ist schlecht. Es wird uns ständig erzählt, welche Jobs gut sind und welche schlecht. Wir müssen uns fragen: Was ist wichtig für die Gesellschaft? Lisa: Wenn du als kleines Mädchen sagst, du willst Kassierin werden, sagt dir der Berufsberater, dass du etwas Gescheites machen sollst.

Was ist wichtig für unsere Gesellschaft?

Michael: Unsere Idealvorstellung der Gesellschaft ist, dass Leute, die nehmen, auch gerne schenken. Das umzusetzen ist irrsinnig schwierig, ich weiß. Aber an einzelnen Orten kann man damit beginnen.

Nach welchen Prinzipien sollte entlohnt werden?

Michael: Es ist schwierig, einem alteingesessenes Konzept ein komplett neues entgegenzusetzen. Ich bin kein absoluter Verteidiger des bedingungslosen Grundeinkommens. Jeder Mensch hat andere Startvoraussetzungen und eine eigene Geschichte. Menschen, die nicht für sich sorgen können, müssen unterstützt werden.

Lisa: Ich finde es unfair, dass jemand, der in den richtigen Kreise geboren wurde, viel mehr Chancen hat und dadurch schlussendlich mehr verdient.

Wie soll Leistung bezahlt werden?

Michael: In meinem Traum nonmonetär. Dieser Traum ist mit Sicherheit sehr weit weg.

Was sagen Sie Menschen, die bereit sind, 60 Stunden zu arbeiten, hoch motiviert sind, zu gestalten?

Michael: Ich bin selber Jungunternehmer und bin nicht gegen Leistung. Ich habe bei Vier Pfoten an Projekten auch 70 Stunden die Woche gearbeitet. Das war gut, weil wir viele Erfolge hatten, die Arbeitsstunden waren ein vernünftiger Einsatz. Ich freue mich für jeden, der eine Tätigkeit gefunden hat und Bestätigung bekommt. Aber ich sehe es als Problem, wenn Anerkennung in einer Gesellschaft nur über Geld ausgedrückt wird. Damit wird man abhängig vom Geld, vom Job. Überkonsum ist eine Kompensation: Ich gönne mir ein Fünf-Sterne-Hotel, weil ich es sonst eh so stressig habe.

Wieso lassen sich so viele Menschen stressen?

Michael: Wenn man tief in diesem System steckt, ist es unvorstellbar, da rauszukommen. Unsere Gesellschaft glaubt, dass es nicht möglich ist, mit 20 Stunden Arbeit glücklich zu sein. Was unvorstellbar ist, macht Angst. Wir wollen zeigen, dass es auch anders geht. Aber wir sagen nicht, dass unser Weg der richtige ist. Er ist nicht mit einer Blaupause zu kopieren.

Falsche Arbeit macht krank

Weshalb entscheiden wir uns für Karrierewege, die nicht unseren Talenten entsprechen? Weshalb laufen wir lieber im Hamsterrad, als unser eigenes Ding zu machen? Die heutige Wirtschaftswelt lässt viele Fragen offen. „So verbleibt ein Unbehagen an der Ökonomie; sie wirkt undurchschaubar, unberechenbar und willkürlich wie eine griechische Gottheit“, schreibt Arno Gahrmann in seinem Buch „Wir arbeiten und nicht das Geld. Wie wir unsere Wirtschaft wieder lebenswert machen“.
Das Ergebnis dieser unüberschaubaren Ökonomie beginnt am Arbeitsplatz. Viele Menschen sind mit der Komplexität dort überfordert. Die Suche nach dem Sinn der Tätigkeit und Werte wie Unabhängigkeit, Flexibilität und Freiheit rücken in den Vordergrund.
Vielen Menschen tut Arbeit nicht gut, weil sie die falsche Arbeit verrichten, Führungskräfte keine Leadership-Fähigkeiten haben und der Stress zunimmt: In Österreich hat jeder Vierte mit arbeitsbedingtem Stress zu kämpfen. Ein Grund für Stress ist die ständige Erreichbarkeit und die Forderung nach Multitasking. Eine Studie der Loughborough University zeigt, dass das Lesen und Versenden von eMails den Blutdruck, die Herzfrequenz sowie den Spiegel des Stresshormons Cortisol erhöht.

Manche Menschen entscheiden sich für eine radikale Alternative zum Hamsterrad: den Ausstieg. Sie lassen Erwartungsdruck und Forderungen hinter sich. Das berühmteste heimische Beispiel dafür ist Roland Düringer. Er will zeigen: Wollen wir weniger, können wir uns vom System des Getrieben-Seins distanzieren und vielleicht so zu uns finden, ausgeglichener werden.
Damit geht jedoch oft gesellschaftliches Ansehen verloren. Arno Gahrmann schreibt in seinem Buch, über das müsse man sich hinwegsetzen (können). „Ohne Turbo geht es einfach besser.“ Sind alle Menschen bei ihrer Tätigkeit künftig erfüllt, könne der Kreislauf der unberechenbaren Ökonomie entschleunigt und später sogar einmal gänzlich aufgebrochen werden.

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