"Anarchie reicht mir nicht als Lebenssinn"
Im Juni noch war er als EU-Spezialkommissar auf Straßenkollekte in London, um von den Briten Brexit-bedingt Geld zurückzuholen. Nun ist es vorbei mit spaßiger Politsatire: Tobias "Tobi" Schlegl, Moderator beim ZDF und Reporter beim NDR, beendet seine Fernsehkarriere und rettet demnächst Menschenleben. Als Notfallsanitäter. Vergangene Woche haben sich die deutschen Feuilletons mit dieser Nachricht überschlagen. Der ungewöhnliche Berufsschwenk nach 21 Jahren Fernsehkarriere sorgt natürlich für die Frage: Wieso macht er das?
Trash und Tiefsinn
Tobias Schlegl ist ein Kind des Fernsehens. Gerade volljährig geworden, moderiert er rotzfrech beim Musiksender Viva. Drei Jahre später hat er seine erste eigene Liveshow, kEwL, die im Mai 2000 von "Schlegl, übernehmen Sie" abgelöst wird. Dort empfängt er Stars wie Die Ärzte und Herbert Grönemeyer. Auf Pro Sieben bekommt er 2002 seine eigene Trash-Talkshow "Absolut Schlegl": er lässt live Vaterschaftstests auswerten und eine Jungfrau mit dem noch unbekannten Bushido streiten. Nach Zwischenstationen bei Viva und MTV landet er 2007 beim Sender NDR als Moderator des beliebten Satire-Magazins "Extra 3". Manche ätzen, der kecke Kölner sei der "kleine Stefan Raab". 2009 macht er sich in der Dokureihe "Schlegl sucht die Wahrheit" im NDR auf die Suche nach der guten Zukunft, geht mit Thilo Bode von Foodwatch einkaufen und legt sich in Rom mit G8-Protestlern an. Ab 2012 führt er durch das ZDF-Kulturmagazin "aspekte".
Hat er nun einfach genug vom oberflächlichen Glanz der Fernsehwelt oder hat er nur vergeblich auf den großen Durchbruch gehofft?
Er sagt, er habe alles gemacht, was er machen wollte. Es dürfte also Ersteres sein. Tobi Schlegl will nicht mehr so viel Aufmerksamkeit. Mit dieser Begründung lehnte er auch die Interviewanfrage vom JOB KURIER ab. Vor vier, fünf Jahren hatte es angefangen, das Brummen in seinem Kopf, wie der 38-Jährige im Stern-Interview sagt. Wogen latenter Unzufriedenheit schwappten immer wieder in die Sphären seines Bewusstseins. "Ich habe mir immer häufiger die Frage gestellt: Was will ich im Leben wirklich?"
So ganz genau weiß er selbst nicht, woher die Sehnsucht nach mehr gesellschaftlichem Engagement kam. Vermutlich kam sie, als er von 2004 bis 2007 Jugendvertreter im Rat für Nachhaltigkeit der Bundesregierung war. Und als Gastgeber im Hamburger N-Klub, einem Nachhaltigkeitsnetzwerk: "Dort habe ich sehr viele engagierte Menschen kennengelernt und mich immer häufiger gefragt: Was machst du eigentlich selbst? Du moderierst Sendungen, du ärgerst Politiker vor laufender Kamera, aber richtig für eine Sache engagierst du dich nicht."
Streich das wieder
Ende 2015 war das Brummen im Kopf unüberhörbar geworden und die Erkenntnis plötzlich da: "Anarchie zu machen reicht mir als Lebenssinn nicht aus." Er setzte sich hin und schrieb alle Berufe auf, die ihm sinnvoll erschienen. Lehrer, Feuerwehrmann, Bauer, Erzieher, Arzt. "Und in Klammern: Politiker." Dann strich er weg, was ihn weniger ansprach. Übrig blieb der Arzt. Nur, mit 38 ein Medizinstudium zu beginnen, um dann mit Mitte 40 keinen Job mehr zu bekommen, das erschien ihm doch als zu gewagt. Ein Notfallsanitäter – "an der Nahtstelle von Leben und Tod" – kam dem Arzt am nächsten.
Ausgewählt wurde Schlegl beim Deutschen Roten Kreuz als einer von fünf aus 200 Bewerbern. Beim Assessment Center stemmte er Hanteln, rannte mit 20-Jährigen um die Wette. Die beim Roten Kreuz, so sagt er, dachten wohl, er sei eine Art unverkleideter Günther Wallraff. Als er die Zusage bekam, lachte er. Nachts kamen die Albträume. Er sah sich bei Rettungseinsätzen, sterbende Menschen, Blut überall. Und wachte davon schweißgebadet auf. Doch weder das noch die kritischen Stimmen in seinem Umfeld noch die Tatsache, dass er di e nächsten drei Jahre 800 Euro verdient und danach 2500 brutto, bringen ihn von seinem Entschluss ab. Wahrscheinlich, sagt Tobi Schlegl, hat er ein Helfersyndrom. Schon wenn er ein Menschenleben retten könnte, hätte sich sein Weg gelohnt. Bleibt zu hoffen, dass der Aufprall in die Realität nach dem Sprung aus der TV-Scheinwelt nicht allzu hart wird. Eine Hintertür will er sich offenhalten – und ab und zu moderieren.
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