Griechenlands kranke Reformen

Ärzte fehlen, die Versorgung kollabiert. Es gibt mehr HIV-Fälle, Selbstmorde und Totgeburten.

Wenn Erika Pitsikali die Terrassentür öffnet, schaut sie auf ein Postkarten-Panorama: Vor ihr schwingt sich in einem weiten Bogen die Westküste der beliebten Urlaubsinsel Santorin. Vor 35 Jahren ist die Oberösterreicherin in das Küstendorf Oia gezogen. Mit ihrem griechischen Mann hat sie hier jahrhundertealte Wohnhöhlen restauriert, die sie nun an Urlauber vermieten.

Der pittoreske Meerblick entschädigt für einiges. Gesundmachen kann er nicht. "Seit ich hier lebe, war die medizinische Versorgung noch nie so schlecht", sagt Pitsikali. Wer krank ist und Hilfe braucht, muss dafür zahlen. "Mein Sohn hatte eine schwere Bronchitis", erzählt Pitsikali. "Das Röntgen und die Behandlungen beim privaten Lungenfacharzt haben uns 150 Euro in bar gekostet. Obwohl wir daneben ohnehin für eine sündteure Sozialversicherung zahlen müssen. " Die kostet zwischen 400 und 500 Euro im Monat.

Theoretisch könnte sie sich zwar das Geld für die Behandlung rückerstatten lassen, sagt Pitsikali. Allerdings gebe es für 10.000 Einwohner nur einen einzigen Arzt, der die dafür nötigen Formulare ausstellt. Das heißt in der Praxis: Tagelanges Anstellen. Sofern die Ärzte nicht überhaupt streiken.

Öffentliche Arztpraxen gibt es auf der Insel nicht mehr. Daran ist der radikale Sparkurs schuld, den die EU und der Internationale Währungsfonds (IWF) verlangen: Viele Stellen wurden gestrichen. Das Budget der staatlichen Spitäler wurde um gut ein Viertel gekürzt. Für Medikamente darf die Regierung statt 4,37 Milliarden (2010) nur noch zwei Milliarden Euro ausgeben.

Wer kein Geld hat, stirbt

Auf einigen Inseln ist die Versorgungslage besonders schlecht: Früher mussten angehende Mediziner einen Turnus auf dem Land absolvieren – das wurde abgeschafft. Wer heute als Doktor der Medizin einigermaßen gut verdienen will, kehrt seiner Heimat ganz den Rücken. Zurück bleiben die Kranken. Sie müssen selbst schauen, wo sie bleiben.

Die Hoteliersfrau sieht sich dabei als privilegiert: "Wir können uns diese Behandlung leisten. Aber was tun andere?" Etwa Arbeitslose, die mit 350 Euro im Monat auskommen müssen. Für sie können fünf Euro Selbstbehalt oder Rezeptgebühr zur unüberwindbaren Hürde werden. Spätestens nach zwei Jahren ohne Job erlöschen die Ansprüche auf Gesundheitsleistungen komplett. Pitsikalis bitteres Resümee: "Wer Geld hat, wird gesund. Wer nicht, der stirbt."

Das ist nicht einmal übertrieben, zeigen aktuelle Studien: So ist die Zahl der Totgeburten zwischen 2008 und 2011 um 21 Prozent gestiegen – seit der Krise gibt es keine flächendeckenden Schwangerschaftsuntersuchungen mehr. Die Zahl der HIV-Neuerkrankungen bei Heroinsüchtigen ist 2009 bis 2012 von 15 auf 484 Fälle gestiegen, weil die Ausgabe von Gratis-Spritzen und Kondomen reduziert wurde.

Erstmals nach mehr als 40 Jahren ist es zum Ausbruch von Malaria gekommen – einer Seuche, die in Europa längst als ausgerottet galt.

Die Zahl der Selbstmorde hat von 2007 bis 2011 um 45 Prozent zugenommen. Fälle schwerer Depression sind seit der Krise ums Zweieinhalbfache gestiegen. Diese Zahlen stammen nicht etwa von Aktivisten: Sie wurden von Forschern der Eliteunis Oxford und Cambridge im renommierten Medizin-Fachjournal The Lancet veröffentlicht.

"Krebs ist kein Notfall"

Darüber wie gesund die Griechen sind, bestimmen mittlerweile vor allem Geld, Glück und die geografische Lage. "Uns geht’s noch gut: Wir haben ein kleines, feines Krankenhaus", sagt Angelos Kotronis. Der Architekt, der in den 1960ern in Graz studiert hat, ist Bürgermeister der Insel Hydra, etwa 70 Kilometer von Athen entfernt. Bei Komplikationen werden Patienten per Hubschrauber in die Hauptstadt gebracht. Viel schlechter ergeht es Bewohnern abgelegener Inseln, die keinen eigenen Flughafen haben.

Auch auf Santorin müssen Medizin-Notfälle auf die Nachbarinsel Kreta ausgeflogen werden. Dabei gäbe es auf Santorin ein hochmodernes Krankenhaus, das 2009 fertiggestellt wurde. Wegen des Sparkurses hat es aber nie aufgesperrt. Weshalb nun sündteures Medizingerät ungenutzt vergammelt.

800.000 bis 1,2 Millionen Griechen haben inzwischen gar keinen Anspruch auf Gesundheitsleistungen mehr, wird geschätzt. In Notfällen würden auch unversicherte Personen im Spital behandelt, sagte Gesundheitsminister Adonis Georgiadis kürzlich zur Washington Post. Krankheiten wie Krebs hält er freilich nicht für dringlich – "außer im Endstadium".

Medizinische Versorgung für die, die gar nichts haben: Die 1980 gegründete Hilfsorganisation Ärzte der Welt (Médecins du Monde) ist mit ehrenamtlichen Ärzten in 80 Ländern tätig. Heinz-Jochen Zenker, Präsident der deutschen Sektion, hat sich jüngst einen Eindruck von der Lage in Griechenland verschafft.

KURIER: Studien zeichnen ein verheerendes Bild der griechischen Gesundheitslage. Kann man das wirklich glauben?

Heinz-Jochen Zenker: Die Zeiträume sind noch sehr kurz, das stimmt. Zumindest die Tendenzen sind aber eindeutig. Wir wissen seit 150 Jahren, dass soziale Lage und Gesundheit zusammenhängen.

Was heißt das konkret?

Extrem viele Jugendliche stehen in Griechenland ohne Job da. Arbeitslose verlieren nach einem Jahr jede finanzielle Unterstützung. Die Gehälter wurden teilweise um die Hälfte gekürzt. So wird erklärbar, warum die Selbstmordrate gestiegen ist. Die Griechen sind in den Familien enger zusammengerückt – das begünstigt Tuberkulose-Infektionen. Und wenn die Mittel zur Seuchenbekämpfung drastisch gekürzt werden, darf es nicht verwundern, wenn es zu Malaria-Ausbrüchen kommt.

Welche Erfahrungen macht Ihre Organisation – Ärzte der Welt – derzeit in Griechenland?

Wir haben sechs Kliniken, die für Flüchtlinge gedacht waren. Jetzt sind zwei Drittel der Patienten ältere Griechen, die sich die fünf Euro beim Allgemeinmediziner oder 25 Euro fürs Krankenhaus nicht leisten können.

Welchen Anteil hat daran der Sparauftrag von EU und IWF?

Wegen der Troika dürfen maximal sechs Prozent der Wirtschaftsleistung für Gesundheit ausgegeben werden. In Deutschland sind es 10,8 Prozent. Der Nationale Gesundheitsfonds ist mit Milliarden überschuldet, viele Rechnungen bleiben ungezahlt, in Spitälern werden die Medikamente und das Verbandsmaterial knapp. Ein Teufelskreis.

Was heißt das für die Kranken?

Ich weiß von einem krebskranken Kind auf Kreta, dessen Eltern keinen Zugang zu Chemotherapeutika erhielten. Das sind Einzelfälle, sicher. Aber in vielen Landesteilen funktioniert die Basisversorgung nicht mehr, auf manchen Inseln sieht es dramatisch aus. Dass Europa da wegsieht, verstehe ich nicht.

Was fordern Sie?

Griechenland braucht einen Marshall-Plan zur sozialen Absicherung, wie Österreich und Deutschland nach 1945. Ich appelliere an Kanzlerin Angela Merkel: Es muss ein Umdenken geben. Bis das ineffiziente und korrupte Gesundheitswesen reformiert ist, ist eine Überbrückung nötig. Ich verstehe ja, dass man Druck ausübt. Aber doch nicht auf den Rücken der Armen.

Griechenland kehrt auf den Wachstumspfad zurück. Das Loch im Staatshaushalt ist fast gestopft. Wunderbar, war die Arbeit der Troika nicht ein voller Erfolg? So kann nur urteilen, wer das soziale Elend der Menschen ausblendet. Sonst lautet das Fazit: "Operation gelungen, Patient tot." Die 240-Milliarden-Euro-Kredite, mit denen Griechenland vor der Pleite bewahrt wurde, haben den Menschen wenig gebracht: Damit wurden alte Schulden beglichen – also Geld zurückgezahlt, das frühere Regierungen in Athen ausgegeben hatten. Zumindest ein paar Milliarden hätten dafür reserviert sein sollen, die aktuelle Not der ärmsten Griechen zu lindern. Die Troika hat die Peitsche geschwungen, aber aufs Zuckerbrot vergessen. Die Antwort folgt wohl bei der EU-Wahl: Die größten Stimmenzuwächse erwarten die extremistischen Parteien.

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