Japans Ende mit Schrecken steht noch aus

Endloskrise seit 1991 führte zu Schulden-Weltrekord und "Scheinwohlstand".

Hochmoderne Infrastruktur, gepflegte Städte, kaum Anzeichen von Armut auf den Straßen: Japan-Reisende stehen vor einem Rätsel. Das soll das Schreckensszenario sein, vor dem viele Notenbanker und Experten warnen?

„Japanische Verhältnisse“ sind eine Kombination von sinkenden Preisen und Löhnen (Deflation) sowie stagnierender Wirtschaft. Daraus konnte sich Japan seit seiner Immobilien- und Bankenkrise Anfang der 1990er nie wirklich befreien.

Die Eurozone ist von so einem Szenario nicht weit entfernt. Im August betrug die jährliche Teuerungsrate nur noch 0,3 Prozent. Selbst Ausreißer wie das Hochpreisland Österreich (zuletzt 1,7 Prozent) konnten daran nichts ändern. Und die Konjunktur geht zusehends auf Tauchstation. Rutscht die Währungsunion jetzt in die Deflation ab – und wäre das so schlimm? Schließlich haben die Japaner ihren Wohlstand trotz zwei „verlorener Jahrzehnte“ erstaunlich gut konserviert.

Trügerische Ruhe

„Das Stichwort konservieren ist sehr treffend“, sagt Österreichs Wirtschaftsdelegierter in Tokio, Michael Otter, im Gespräch mit dem KURIER (siehe unten). Für den touristischen Besucher der Großstädte seien die Folgen der Endlos-Krise tatsächlich nicht sichtbar. Ganz anders sehe das in kleineren Städten und Gemeinden am Land aus. Dort macht sich die alternde und schrumpfende Bevölkerung und Abwanderung der Jungen in die Städte bemerkbar: Öffentliche Mehrzweckhallen oder Schauspielhäuser, die in der Boomphase errichtet wurden, stehen leer.

Die Negativspirale aus fallenden Preisen und Löhnen schadet auch dem Wirtschaftsklima massiv: Der Konsum stagniert. Unternehmer halten sich deshalb mit Investitionen zurück. Otter bemerkt zudem eine Generationenschere: Während ältere Japaner ein gutes Vermögen aufbauen konnten, fanden die heute 30- bis 40-Jährigen meist nur noch befristete oder Teilzeitjobs vor.

Von „Scheinwohlstand“ spricht Valentin Hofstätter von Raiffeisen Research: Weil die Bevölkerung kaum Geld ausgegeben hat, hat es der Staat getan. So kam der Schulden-Weltrekord von 244 Prozent der Wirtschaftsleistung zustande. Dass Japan überhaupt noch Kredite erhält, liegt daran, dass die Schuldtitel fast zur Gänze von inländischen Banken (zuletzt von der Notenbank selbst) und Pensionsfonds aufgekauft werden, die auf die Zahlungsfähigkeit des Staates vertrauen. Bisher zumindest. Endlos lässt sich diese Schuldenspirale aber nicht drehen. Premier Shinzo Abe und Notenbanker Haruhiko Kuroda wollen daraus mit einem kühnen Kurs ausbrechen, indem sie die Inflation anheizen. Um den Schuldenberg abzutragen, müsste das aber über Jahrzehnte hinweg gelingen. Hofstätter ist skeptisch, ob das aufgeht. Sollte aus irgendeinem Grund das Vertrauen in den Wert des Yen oder die Rückzahlungsfähigkeit des Staates erschüttert werden, droht das Gleichgewicht zu kippen. Am Ende dürften die Japaner wohl oder übel um Ersparnisse oder Pensionen umfallen. Ob das in zwei, fünf oder erst in zehn Jahren passiert, lässt sich nicht vorhersagen.

Große Erwartungen an EZB

Die Europäische Zentralbank (EZB) könnte bereits am Donnerstag gegen die drohende Deflation aktiv werden. Große Wunder sollte man sich davon allerdings nicht versprechen, sagt Experte Hofstätter. Das Hauptproblem, das hinter der sinkenden Inflation steht, sei die aktuelle Wirtschaftsschwäche der Währungsunion. Bewegt sich die Konjunktur der Eurozone noch ein weiteres Jahr entlang der Nulllinie, könnten die Deflationsängste tatsächlich berechtigt sein. Die EZB habe bereits einiges in ihrem Wirkungsbereich unternommen: „An den Zinsen liegt es nicht mehr, wenn die Wirtschaft nicht in Gang kommt.“

Welche Lehren könnte Europa aus dem japanischen Dilemma ziehen? Im Euroraum seien die demographische Entwicklung und die Staatsschulden noch nicht ganz so dramatisch wie in Japan, sagt der Raiffeisen-Analyst. Die Regierungen müssten aber jetzt aktiv werden, um Schlimmeres zu verhindern: das Pensionsalter anheben, die Staatsausgaben stabilisieren und durch Strukturreformen das Wachstum ankurbeln. Jene Volkswirtschaften, die es sich leisten können – allen voran Deutschland – sollten überdies Konjunkturprogramme auflegen und Investitionen umsetzen. Dass die Eigenkapitalanforderungen für die europäischen Banken ausgerechnet in dieser kritischen Phase so massiv verschärft werden, habe nicht geholfen, sagt Hofstätter. Andererseits sei nach dem Bilanzcheck und Stresstest der EZB im Herbst 2014 das Schlimmste wohl bald überstanden. Sollte die EZB überdies die Ankäufe von Kreditbündeln (Asset backed securities/ABS) umsetzen, die seit längerer Zeit vorbereitet werden, könnte das die Banken entlasten und die Kreditvergabe ankurbeln.

KURIER: Japan-Reisende sehen wenig von "zwei verlorenen Jahrzehnten" oder der dauerhaften Misere. Die Bevölkerung scheint ihren Wohlstand gut konserviert zu haben. Stimmt der Eindruck?

Michael Otter: Das Stichwort ‚konserviert‘ ist sehr treffend. Für den Besucher sind die Folgen tatsächlich nicht erkennbar. Die Sehenswürdigkeiten, Flughäfen, Bahnhöfe oder öffentlichen Plätze sind vor allem in den großen Städten wie Tokio, Kyoto oder Osaka bestens gepflegt. Die Infrastruktur zählt zu den modernsten und effizientesten der Welt. Die Zentren erleben auch weiterhin einen Zuwachs an Bevölkerung, einen Anstieg der Grundstückspreise und regen Tourismusverkehr aus dem Ausland. In vielen Bereichen, wie zum Beispiel bei neuen Produktionsprozessen oder Werkstoffen ist Japan auch weiterhin noch weltweiter Trendsetter.

Äußert sich die lang andauernde Deflationsproblematik also gar nicht im Alltag? Oder gibt es auch eine andere, verborgene Seite?

Ja, genau. Was man nicht sofort erkennen kann: Die verlorenen Jahrzehnte gepaart mit dem Problem der Abwanderung und der Bevölkerungsabnahme werden vor allem in den kleineren Städten und Gemeinden am Land sichtbar. Die Jugend wandert ab in die großen Städte, kleinere Industriebetriebe sind international nicht mehr konkurrenzfähig und das Potenzial als Tourismusort ist oft ungenützt. Öffentliche Anlagen wie Schauspielhäuser oder Mehrzweckhallen, die vor dreißig Jahren für eine boomende Wirtschaft und junge Bevölkerung gebaut wurden, können nicht mehr erhalten werden.

Woran erkennt man die Belastungen durch die hartnäckige Deflation und das Nullwachstum im Wirtschaftsalltag?

Das Hauptproblem ist die negative Spirale: Die Preise fallen, in der Folge auch die Löhne. Die Konsumenten halten sich Erwartung weiter fallender Preise und Löhne zurück oder sparen. Dadurch gehen auch die Investitionen der Unternehmen zurück, die mit geringerer Nachfrage rechnen müssen. Diese Spirale führt zu einer resignierenden Einstellung aller Wirtschaftstreibenden. Und es bewirkt ein Auseinanderdriften der Gesellschaft entlang von Generationsgrenzen.

Inwiefern?

Die ältere Generation hat es oft noch geschafft, sich ein gutes „Vermögen“ aufzubauen. Die Generation, die jetzt in Pension geht, gehört zu den Bestverdienern und konnte in der Regel lebenslang fixe Anstellungsverhältnisse mit Lohnzuwachs genießen. Anders sieht es für die Generation der Dreißig-, Vierzigjährigen aus, die nach dem Zusammenbruch der Wirtschaftsblase Anfang der Neunziger auf dem Arbeitsmarkt kam und sehr oft nicht mehr als befristete und Teilzeitarbeitsverhältnisse vorgefunden hat. Und die ganz junge Generation der Teenager und Zwanzigjährigen hat überhaupt nie etwas anderes als gleichbleibende oder fallende Preise sowie negative Wirtschaftsstatements gehört.

Das ausgleichende Ventil waren offenkundig die Budgetdefizite und Staatsschulden. Trotz der Rekordschulden scheint das Vertrauen der Japaner in die Zahlungsfähigkeit ihres Staates unerschütterlich. Woher kommt das?

Das Budgetdefizit und die Staatsschulden auf der einen Seite und die neue Geldpolitik der Bank of Japan, seit Gouverneur Harohiko Kuroda das Ruder übernommen hat, auf der anderen Seite sollten getrennt betrachtet werden. Staatsschulden und überhöhte Ausgaben des Staates waren notwendig, da der Staat den im privaten Sektor ausgefallenen Konsum auffangen musste. Die Alternative wäre ein massiver Einbruch der Wirtschaftsleistung gewesen, der den sozialen Zusammenhalt überfordert hätte. Gerade in der japanischen Gesellschaft, die Kompromisse sehr stark betont. Zusätzliche Probleme ergeben sich aber natürlich noch dadurch, dass die Deflation die Staatsschulden Japans zusätzlich erhöht.

Im Moment ist es fast ausschließlich die Nationalbank, die Bank of Japan, die die Staatsschulden schluckt. Das kann doch auf Dauer nicht nachhaltig sein, oder?

Die neue Geldpolitik verfolgt mehrere faktische Ziele, etwa die Erhöhung der Geldmenge oder die Abwertung des Yen gegenüber den Währungen wichtiger Handelspartner. Daneben will die Bank of Japan aber vor allem die Deflationserwartung brechen. Die japanische Bevölkerung soll das Warten auf fallende Preise aufgeben und aufgeschobene Konsumwünsche vorziehen. Deshalb wird ständig die Inflationserwartung von 2 Prozent wiederholt, es wurde die Mehrwertsteuer erhöht und gleichzeitig den großen Konzernen eine Lohnerhöhung abgerungen. Die Regierung hofft, dadurch die negative Spirale durch eine positive zu durchbrechen, in der Lohnsteigerungen zu erhöhter Nachfrage und vermehrter Investition führen soll. Die derzeitige Prognose für 2014 bleibt vorsichtig optimistisch. Die japanische Wirtschaft sollte um 2,1 Prozent wachsen.

Manche Experten sprechen freilich von einer „Wohlstandsillusion“, bei der aufgrund des großen staatlichen Schuldenberges irgendwann ein Einschnitt unausweichlich sein wird und die Japaner um ihr Erspartes oder ihre Pensionen umfallen.

Ob die Rechnung von Premier Shinzo Abe aufgeht und seine sogenannten „Abenomics“ Erfolg haben, wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Vor dem Hintergrund einer schrumpfenden und älter werdenden Gesellschaft fehlt aber auch vielen Japanern der Glaube an einen Erfolg. Bisher konnten die moderaten Lohnanstiege die Preissteigerungen nicht ausgleichen - die japanischen Konsumenten haben durch Abenomics mehr verloren als gewonnen.

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