"Italien ist für EU die größte Gefahr"

Migration und Flüchtlinge werden die EU aber nicht sprengen können, sagt der Top-Ökonom Marcel Fratzscher.

KURIER: Sie sind immer wieder zu Vorträgen in Österreich. Machen Sie auch Urlaub bei uns?Marcel Fratzscher: Ja. Österreich ist ein schönes Land.

Die Frage war deshalb, weil Sie hier viele Ihrer Landsleute treffen, die im österreichischen Tourismus arbeiten. Was macht die Deutschen so mobil?

Die Deutschen sind gar nicht so mobil. Da gibt es sehr große regionale Unterschiede und ein starkes Nord-Süd-Gefälle. In Bayern ist die Arbeitslosenrate bei drei Prozent, im Osten um die zehn Prozent. Dass die Unterschiede nicht zu groß werden, da ist die Politik gefragt. Im Grundgesetz steht, es muss gleiche Lebensbedingungen für alle geben.

In Österreich wird gerade viel über Mindestlöhne diskutiert. Wie sind Ihre Erfahrungen damit?

2015 wurde erstmals ein flächendeckender Mindestlohn gesetzlich eingeführt. Vier Millionen Beschäftigte haben davor weniger verdient. Es gab nur sehr geringe negative Effekte.

Heuer wurde der Mindestlohn auf 8,84 Euro brutto pro Stunde erhöht. Soll er bald weiter steigen?

Ich warne davor, ihn zu rasch zu erhöhen. Man sollte ihn dort belassen, wo er ist. Wir haben zwar mehr als eine Million offene Jobs. Aber auch 2,6 Millionen Arbeitslose. Und in den kommenden Jahren werden viele Flüchtlinge auf den Arbeitsmarkt kommen.

Niederlassungsfreiheit, aber ganz unterschiedliche Lohnniveaus – entwickelt sich das nicht immer mehr zum Problem in der EU? Es war schließlich mit ein Grund für den Brexit.

Ich halte von einer Beschränkung der Freizügigkeit gar nichts. Alle vier Freiheiten sind wichtig für den Binnenmarkt. Die Migration ist enorm wichtig für viele Jobs, zum Beispiel in der Pflege. Länder wie Deutschland profitieren davon.

Was halten Sie von Diskussionen, Migranten das Geld für Kinder, die im Heimatland geblieben sind, zu kürzen?

Nichts. Missbrauch gilt es abzuschaffen. Aber dass es eine Zuwanderung in Sozialsysteme gibt, ist populistischer Quatsch. Zuwanderung ist ein wirtschaftlicher Gewinn für Länder wie Österreich und Deutschland. Man muss genau auf die Zahlen und Fakten schauen.

Migrationsströme und das Unvermögen, Flüchtlinge in der EU zu verteilen: Hat das Potenzial, die EU zu sprengen?

Die Umverteilung ist wirklich ein wunder Punkt in Deutschland und Österreich. Das erfordert mehr Solidarität in Europa. Da braucht man einen Mechanismus, der funktioniert.

Welcher könnte funktionieren?

Zum Beispiel, dass ein Land, das keine Flüchtlinge aufnimmt, Geld dafür zahlen muss.

So etwas wie ein Kopfgeld?

Das ist hart ausgedrückt, aber ja.

Wo sehen Sie die größte Gefahr für die EU?

Die größte Gefahr ist derzeit Italien. Auf die Bankenkrise kann eine Staatsschuldenkrise kommen. Vielleicht auch ein Referendum über den Austritt aus EU und Euro. Es ist traurig, was in Griechenland passiert, aber das hatte keine negative Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft. Eine Pleite Italiens könnte Europa nicht verkraften.

Was halten Sie von einer Spaltung der Eurozone und derEinführung von einem Nord- und einem Süd-Euro?

Gar nichts. Mit einem Süd-Euro würde Italien keine zwei Prozent Zinsen zahlen so wie jetzt. Der Euro ist nicht der Schuldige, die falsche Politik ist schuld.

Muss sich Europa auf einen Handelskrieg mit den USA einstellen?

Ja, Donald Trump wird einiges von dem umsetzen, was er angekündigt hat. Jetzt geht es darum, zusammenzustehen und Flagge zu zeigen. Nur als geeintes Europa wird es gelingen, Schaden abzuwenden.

Wie lautet Ihre kurzfristige Konjunkturprognose?

Europa wird sich heuer besser entwickeln als erwartet. Die Risiken sind enorm, aber Europa wird bestehen.

Noch ein Tipp von Ihnen: Wie viele Mitglieder wird in zehn Jahren die EU und wie viele die Eurozone haben?

Die EU wird 27 Mitglieder haben, nein 28. Die Briten gehen zwar, aber die Schotten werden beitreten. DieEurozone wird eher mehr Mitglieder haben als diejetzigen 19.

Zur Person

Marcel Fratzscher (46) ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, Professor für Makroökonomie und Finanzen an der Humboldt-Universität Berlin und Vorsitzender der Expertenkommission zur „Stärkung von Investitionen in Deutschland“. Von 2002 bis 2012 war er für die Europäische Zentralbank tätig.

Zu Besuch in Österreich

Der deutsche Top-Ökonom ist immer wieder zu Vorträgen und Veranstaltungen in Österreich. Am 27. April kommt er auf Einladung des Business Circle als Keynote-Speaker zum CFO-Forum nach Stegersbach.

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