"Preisfrage": In welchem Industrie-Land gibt es (fast) keine Inflation?
Es kracht ordentlich in unserer westlichen Welt. In den USA betrug die Inflation im Dezember sieben Prozent. Der höchste Wert seit 40 Jahren.
In der Euro-Zone schnellte die Inflationsrate zuletzt auf fünf Prozent hoch, in Österreich gegen Jahresende 2021 auf 4,3 Prozent. Im Jahresdurchschnitt betrug die Inflation in Österreich 2,8 Prozent.
Die Notenbanken sind gestresst. Sie müssen sich überlegen, ob und wie sie die stark steigende Inflation mit Zinserhöhungen bekämpfen.
Weil gleichzeitig Null-Zinspolitik herrscht, ist das für die Sparer eine Katastrophe. Sie werden aufgrund der Inflation enteignet.
Da fragt man sich, ob man die Menschen in einem ganz bestimmten Land nicht beneiden sollte. Denn in diesem Land gibt es – fast – keine Inflation.
Die Unternehmen geben steigende Kosten nicht an die Konsumenten weiter und die Wohnungsmieten bleiben seit Jahren gleich.
Das Land, von dem hier die Rede ist, ist Japan. Dort herrschte im Vorjahr nach vorläufiger Endabrechnung eine leichte Deflation von 0,17 Prozent. Die Nachfrage war also wieder einmal niedriger als das Angebot.
Seit fast nun schon 30 Jahren bewegt sich die Preisspirale in Japan entlang der Nulllinie. Eine Inflation jenseits der Ein-Prozent-Marke ist eine Sensation.
Aber warum ist das so? Dafür gibt es mehrere Gründe.
1: Eine gewaltige Krise
Zunächst ein Blick in die Vergangenheit. In den 1990-Jahren erlebte Japan eine schwere Krise. In den Jahrzehnten davor war Japan zu einer der führenden Wirtschaftsmächte der Erde aufgestiegen.
In den 1980er-Jahren galt Japan sogar als „Motor der Weltkonjunktur“. Aber die Japan AG war auf Treibsand gebaut. Denn die Banken warfen den Unternehmen und Privatkunden das Geld förmlich nach.
1990 brach das Kartenhaus zusammen. Die ungedeckten Kredite stürzten zunächst den Finanzsektor in eine schwere Krise, dann krachte der Immobilienmarkt und am Ende die ganze Wirtschaft.
Die Krise wirkt bis heute, sagt Christian Helmenstein vom Wirtschaftsforschungsinstitut Economica zum KURIER. Das zeige allein die Entwicklung an der Börse. 1990 lag der Leitindex Nikkei bei rund 39.000 Punkten, ehe er dann binnen eines Jahres um 40 Prozent runterrasselte.
Die 39.000 Punkte hat der Nikkei seit damals nie wieder erreicht. Auch die Banken sind seither vorsichtig geworden. „Das Kreditwachstum in Japan ist sehr gebremst“, sagt Helmenstein. Er nennt das eine „bankbilanzbezogene Rezession“.
2: Konsumenten bestrafen Preiserhöhungen
Die Krise hat Japans Konsumenten nachhaltig paralysiert. Sie bestrafen stark steigende Preise mit Konsumverzicht. Außerdem müssen sie sparen. Weil die Löhne und Gehälter nicht steigen.
Laut OECD haben sich in Japan die Gehälter gemessen an der Kaufkraftparität seit 30 Jahren nicht erhöht. Die Gewerkschaften akzeptieren das im Abtausch mit sicheren Jobs.
Die Arbeitslosigkeit ist daher gering. Fünf Prozent war in den vergangenen 30 Jahren das Maximum. Doch greifen die Unternehmen immer stärker auf Leiharbeiter zurück.
3: Unternehmen geben höhere Kosten nicht weiter
Die fehlenden Lohnzuwächse bremsen Preiserhöhungen. Da die Unternehmen keine höheren Löhne bezahlen, müssen sie sich auch bei den Preisen zurückhalten.
Höhere Kosten geben sie nicht an die Konsumenten weiter, weil die sonst nicht kaufen. So opfern die Unternehmen einen Teil ihrer Gewinne und hoffen mangels Binnenmarkt auf den Export, so die Investmentbank Goldman Sachs in einer Analyse.
4: Eine alte Gesellschaft
Japan ist globaler Vorreiter bei der Alterung der Gesellschaft. Schon mehr als jeder vierte Japaner ist über 65 Jahre alt. 2020 verlor Japan 0,7 Prozent seiner Bevölkerung.
Allein der Bevölkerungsschwund drücke sowohl das Wachstumspotenzial als auch die Investitionsmöglichkeiten, so Helmenstein.
Gleichzeitig bedeute das rasche Anschwellen des Rentnerheeres, dass immer mehr Menschen von gleichbleibendem Einkommen und dem im Erwerbsleben Ersparten leben müssen.
Besonders ältere Konsumenten bestrafen höhere Preise politisch an der Wahlurne und wirtschaftlich durch Kaufverzicht. Denn die Renten steigen langsamer als Gehälter.
Rückgang und Alterung der Bevölkerung sorgen übrigens für ein besonderes Phänomen: Die Immobilienpreise stagnieren, weil auch die Nachfrage stagniert.
5: Geringere Lieferkettenprobleme
Lieferkettenprobleme sind ein Inflationstreiber. Aber die sind zahlreichen Ökonomen zufolge in Asien nicht ganz so stark gestört wie in Europa oder den USA. Das dämmt den Preisdruck.
Die japanischen Industriekonzerne haben zwar Teile der Produktion in der Vergangenheit nach China verlagert, aber eben nur verlagert und nicht ausgelagert.
Sprich: Die japanischen Konzerne kontrollieren also ihre Produktionskapazitäten im benachbarten Ausland, so Helmenstein. Das mindert Lieferkettenprobleme.
6: Wirtschaft im Slow-Motion-Rhythmus
Japans wirtschaftliche Erholung von der Coronakrise verläuft langsamer als in anderen Ländern. Japan hat seine Wirtschaft nie so stark gedrosselt wie viele andere Industrieländer.
Dafür hat man sie aber auch erst später wieder hochgefahren. Im dritten Quartal 2021 schrumpfte die japanische Wirtschaft sogar. Das wirkt Preisexplosionen entgegen.
Japans Wirtschaft dümpelt allerdings wegen der wenig impulsiven Binnennachfrage seit Jahren nur so dahin. Man lebt vom Export – und wehe, der bricht so wie in der Coronakrise ein.
7: Staatliche Eingriffe
Der japanische Staat hält mit Hilfe von Subventionen die Preise vieler Güter niedrig. Nach Schätzungen der Washington International Trade Association kommen über 40 Prozent der Einkommen der japanischen Bauern vom Staat.
Weitere Subventionen finden sich beim Bahnverkehr, bei den Schul- und Hochschulgebühren und im Gesundheitswesen.
Auch die Nachfrage für Autos wurde immer wieder durch Subventionen – zuletzt für Elektrofahrzeuge – angekurbelt, so dass deren Preise seit 1990 weitgehend konstant geblieben sind.
Insgesamt sind laut Ökonomen mindestens 50 Prozent des Konsumentenpreisindex staatlich gesteuert.
8: Der Preis der „Herrlichkeit“: Explodierende Schulden
Die staatliche Subventionspolitik hat ihren Preis. Die Staatsverschuldung Japans ist von 67 Prozent im Jahr 1990 auf zuletzt 266 Prozent als Anteil vom Bruttoinlandsprodukt angestiegen. Einen großen Teil der Staatsanleihen hat die Bank von Japan gekauft.
Und wie geht es weiter?
Seit Anfang Januar kosten Toastbrot und andere Backwaren um bis zu sieben Prozent mehr. Auch die Sojasaucen verteuern sich.
Der Preis von Kerosin für die Kleinöfen, mit denen viele Haushalte heizen, stieg um ein Viertel. Japan erlebt also gerade einen Teuerungsschock.
Für Helmenstein ist klar, dass sich Japan der internationalen Teuerungswelle vor allem bei Energie nicht ganz wird entziehen können.
Laut der japanischen Notenbank könnte die Inflation heuer also auf 1,1 Prozent steigen. Davon können wir nur träumen.
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