Wie barrierefrei ist Österreich?

Wie barrierefrei ist Österreich?
Ob Gipsfuß, mit Kinderwagen oder im Rollstuhl: Viele Menschen erleben, wie mühsam die kürzesten Wege sein können. Trotz gesetzlicher Regelungen sind zahlreiche Gebäude noch immer nicht barrierefrei erreichbar. Auch im Wohnbau sind Vorschriften und Förderungen alles andere als übersichtlich.

Drei Stufen erheben sich vor dem Eingang der Boutique. Ein paar Meter weiter führt eine Stiege ins Restaurant hinab. Wer je mit einem großen Koffer, Kinderwagen oder gebrochenem Fuß die Stadt durchquert hat, ist für solche Barrieren sensibilisiert. Eine heuer durchgeführte Studie des Bundesverbandes ÖZIV, der Interessensvertretung für Menschen mit Behinderung, analysierte zehn Wiener Einkaufsstraßen. Das Resultat: Weniger als die Hälfte der geprüften Geschäfte sind stufenlos zugänglich. "Im Vergleich zu 2014, wo diese Analyse ebenfalls durchgeführt wurde, ist es zu keiner nennenswerten Verbesserung gekommen", erklärt Peter Noflatscher, als ÖZIV-Access-Berater zuständig für Barrierefreies Planen, Bauen und Gestalten.

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Symbolbild Bevölkerung.

Ein Ergebnis, das bemerkenswert scheint. Denn seit 2006 schreibt das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz vor, dass öffentliche Gebäude, die Güter und Dienstleistungen anbieten – also auch Geschäfte wie Lokale – dies spätestens seit dem 1. Jänner 2016 barrierefrei tun müssen, ansonsten wäre es diskriminierend. Die Bilanz? Noflatscher beurteilt den Fortschritt mit "sehr schlecht". "Wir sind nicht zufrieden, wie diese Entwicklung vorangeht", meint Volksanwältin Gertrude Brinek.

Zahnlose Konsequenzen

Laufende Beschwerden haben Brinek dazu veranlasst, sich mit der Thematik noch stärker auseinanderzusetzen. Das Problem besteht einerseits in den zahnlosen Konsequenzen. "Wenn sich jemand beschwert, dass ein öffentliches Gebäude nicht barrierefrei zugänglich ist, kommt es zu keiner Anpassungsverpflichtung. Im besten Fall bekommt der Klagende Schadensersatz zugesprochen, aber alles bleibt, wie es ist." Das Feld ist jedenfalls ein weites und fängt vor der eigenen Haustüre an. "Von Familien mit Kleinkindern bis zu Personen, die auf Gehhilfen oder Rollstühle angewiesen sind, sind es zahlreiche Menschen, die in barrierefreien Verhältnissen leben wollen oder müssen", sagt Brinek. "Das ist kein Randgruppenthema, sondern betrifft irgendwann alle."

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Bildnummer: 52225572

Vor dem Hintergrund einer älter werdenden Gesellschaft wird Barrierefreiheit zum unerlässlichen Standard. "Diese Dimension wird heute noch nicht umfassend erkannt – in zehn, zwanzig Jahren wird dies aber massiv schlagend werden", sagt Rechtsanwalt Franz Heidinger (Kanzlei Alix Frank), der sich intensiv mit dem Antidiskriminierungsgesetz beschäftigt. "Das Ziel muss sein, den Leuten Hilfe durch Selbsthilfe zu gewähren und die Voraussetzungen zu schaffen, so lange wie möglich im eigenen Umfeld zu leben."

"Regelungsdschungel" bei Bauordnungen

Das Angebot am Wohnungsmarkt entspreche jedoch nicht der Nachfrage, meint die Volksanwältin. Auch, weil die gesetzlichen Voraussetzungen wenig förderlich sind. Jedes Bundesland hat seine eigene Bauordnung. In diesen sind Vorgaben bei Neubauten unterschiedlich geregelt. In der Steiermark gilt etwa: Bei Gebäuden mit mehr als drei Wohneinheiten ist für 25 Prozent der Gesamtnutzfläche sowie 25 Prozent der Anzahl der Wohnungen eine anpassbare Bauweise mit mindestens einem stufenlosen Haupteingang und einer Mindestbreite für Gänge und Türen vorgeschrieben. Im Burgenland ist Barrierefreiheit für Wohnheime und -häuser nur relevant, wenn um Förderungen angesucht werden möchte.

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Anonymer Bauarbeiter auf einer Baustelle beim Hausbau errichtet eine Wand aus Ziegel. Ziegelmauer eines Massivhauses. Symbolbild für Schwarzarbeit und Pfusch

"Es herrscht ein Regelungsdschungel, der den Überblick und die Transparenz für die Betroffenen erschwert", sagt Brinek. Von einer Harmonisierung, sprich Vereinheitlichung, der Bauordnung, wie ihn der Nationale Aktionsplan Behinderung 2012–2020 vorschreibt, ist wenig zu spüren. Noflatscher: "Dass Barrierefreiheit besonders oft im ländlichen Bereich – Stichwort Einfamilienhaus und Reihenhaussiedlung – außen vor gelassen wird, ist eine traurige Tatsache."

Förderungen bieten nur selten Anreize

Förderungen sollten Anreize schaffen, diese Defizite auszumerzen. Allerdings sind auch die Wohnbauförderungsgesetze Ländersache. "Die Anknüpfungspunkte sind vollkommen unterschiedlich. Es fängt bei der Definition von Barrierefreiheit an und hört bei unterschiedlichsten Vergabemodellen auf", erklärt Rechtsexperte Heidinger. So wird in Niederösterreich allgemein ein Punktesystem angewandt (je mehr Punkte erreicht werden, desto höher die Unterstützung). In anderen Bundesländern gibt es Zuschüsse, etwa in Oberösterreich, wo sich das geförderte Hypothekardarlehen für Eigenheime bei Umsetzung bestimmter Maßnahmen um 3000 Euro erhöhen kann.

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"Vor allem bei Adaptierungen und Umbauten sind Förderungen selten festgeschrieben. Gerade hierbei handelt es sich um hohe Kosten, für die es finanzielle Anreize benötigt", sagt Heidinger. "Die Förderungen sind kaum eine Anregung, barrierefrei zu bauen – zumal es oft Deckelungen gibt oder der Zuschuss an bestimmte Voraussetzungen geknüpft wird – etwa das Erreichen eines Energieeffizienzstandards", sagt Noflatscher.

Anpassbarer Wohnbau als Maßstab

Was muss ein Neubau idealerweise heute erfüllen? Maßstabgebend ist der "anpassbare Wohnbau": Hierbei wird in der Grundrissgestaltung bereits Rücksicht auf eventuell folgende Einschränkungen genommen. Ein Beispiel: Badezimmer und Toilette werden räumlich getrennt geplant. Zwischen ihnen befindet sich eine Trennwand, die keine Installationen, Elektroleitungen oder statische Funktion hat. Ist der Bewohner auf einen Rollstuhl oder Rollator angewiesen, kann diese leicht entfernt werden, um so Wendekreise und Erreichbarkeit zu ermöglichen.

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Wohnbau bringt Schwung in Gemeinde (Symbolbild)

"In erster Linie werden dabei vorausschauend Flächen reserviert. Stufenlosigkeit im Innen- und Außenbereich ist auch wichtig", sagt der ÖZIV-Berater. Warum dies immer noch mehr Ausnahme denn Regel ist? "Wohnraum ist teuer, oft fällt der Platz dem Sparstift zum Opfer", meint er. Dass dabei kurzfristig gedacht werde, ist eine andere Sache. "Barrierefreiheit sollte im Planungsbereich endlich als unerlässlicher Bestandteil wahrgenommen werden, genauso wie Statik oder Brandschutz."

Barrierefreies Bauen ist kaum teurer

Langfristig wird sogar Geld gespart, etwa für Pflegeheime. "Der anpassbare Wohnbau muss zur Selbstverständlichkeit werden. Wenn man diese Aspekte von Beginn an in den Entwurf einbezieht, entstehen auch kaum Mehrkosten – laut einer Studie der ETH Zürich durchschnittlich 1,8 Prozent der Baukosten. Das ist jeden Cent wert", sagt Monika Klenovec. Die Architektin und Beraterin unterrichtet seit zwanzig Jahren an der TU Wien die Grundsätze von "Design for All", einer Gestaltungsweise, die alle Menschen berücksichtigt. "Man muss nur an die zig Einfamilienhäuser denken, die wie Ruinen in der Landschaft herumstehen, weil sie für viele nicht mehr bewohnbar sind." Deshalb sei es elementar, von Anfang an nach diesem Prinzip zu bauen.

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Dass das Bewusstsein bei Bauträgern und Architekten steigt, kann sie bestätigen. Allerdings fehle es oft an Detailwissen zur Umsetzung, etwa der ÖNORM 1600. "Es bräuchte verpflichtende Ausbildungen zu den Grundsätzen von Barrierefreiem Bauen, von der HTL bis zu den Universitäten, vor allem aber auch von Beratern – der Job des ,Access Consultant‘ ist in den USA, Kanada oder Irland mittlerweile selbstverständlich." Eine profunde Kontrolle sei ebenso wichtig. Eine Sensibilisierung könnte auch durch Wettbewerbe erreicht werden, die "Design for All"-Kriterien überprüfen, und das vermehrte Aufzeigen von geglückten Umsetzungsbeispielen.

Völlig schwellenlos: Von diesem Zustand ist Österreich noch weit entfernt. Damit eines Tages Barrierefreiheit nicht die Ausnahme, sondern die Norm ist, wie Volksanwältin Gertrude Brinek appelliert, muss der Weg besser heute als morgen beschritten werden.

www.oeziv.org, www.designforall.at

Ob vorausschauend oder aus einem Anlassfall: Wer sein Eigenheim entsprechend umbauen möchte, wird meist mit zwei Fragen konfrontiert. Für welche Arbeiten braucht es eine Genehmigung? Und wer übernimmt die Kosten? „Bezüglich Adaptierungen sind nur in wenigen Landesgesetzen Förderungsregelungen festgeschrieben“, sagt Rechtsanwalt Franz Heidinger. „In Wien erlaubt die MA 25 zum Beispiel sehr wohl Zuschüsse für Umbauten.“ Der erste Weg sollte daher zu dem jeweiligen Amt der Landesregierung führen, um sich über etwaige Subventionen sowie über technische und rechtliche Grundlagen zu informieren und Planungshilfen in Anspruch zu nehmen, soweit diese vorhanden sind (Anfragen sind auch über das Sozialministeriumsservice möglich, alle Telefonnummern auf www.sozialministeriumservice.at/site/Ueber_uns/Sozialministeriumservice/Kontakt/).

Mieter

Wer in einer Mietwohnung lebt, muss zuerst herausfinden, welchem Gesetz diese untersteht. In Altbauten (Gebäude, die vor dem 9. Mai 1945 bzw. bei vermieteten Eigentumswohnungen vor dem 1. Juli 1953 errichtet wurden), gilt das Mietrechtsgesetz. Laut diesem dürfen unwesentliche Veränderungen ohne Genehmigungen des Vermieters durchgeführt werden. Dazu gehört zum Beispiel das Anbringen eines Handlaufes. Wird hingegen ein WC getauscht, die Badewanne oder Dusche adaptiert, ist dies eine wesentliche Veränderung, die dem Vermieter anzuzeigen ist. Anschließend hat dieser zwei Monate Zeit, die Arbeiten zu genehmigen oder abzulehnen. Reagiert er nicht, gilt dies als Zustimmung. Verweigert er die Maßnahme, kann die Entscheidung unter bestimmten Voraussetzungen durch die Schlichtungsstelle bzw. das Gericht erzwungen werden.

Eigentümer

Für Wohnungsbesitzer gestaltet sich die Situation naturgemäß anders: „Als Eigentümer kann man gewisse Maßnahmen durchführen, solange die Interessen der anderen Miteigentümer nicht beeinträchtigt werden“, erklärt Heidinger. Dies betrifft beispielsweise Allgemeinflächen wie das Stiegenhaus: Für den Einbau eines Treppenlifts oder die Verbreiterung der Eingangstür ist daher die mehrheitliche Zustimmung der anderen Eigentümer erforderlich. „Wird sie nicht erreicht, kann diese bei einem berechtigten Interesse, zum Beispiel beim Vorhandensein einer Behinderung, auch vor Gericht eingeklagt werden.“

Neubau

Beim Neubau eines Hauses kann ohnehin vom Start weg auf barrierefreies Wohnen geachtet werden. Ebene Zugänge, aus jeder Lage gut erreichbare Lichtschalter und Griffe, breite Türen (80 bis 90 cm) und Gänge (150 cm Wendekreisradius von Rollstuhlfahrern) erleichtern das Leben. Weiterführende Informationen bietet die Website der Dachorganisation der Behindertenverbände Österreichs (ÖAR): www.oear.or.at

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