IHS-Chef Bonin: "Europa braucht ein neues Geschäftsmodell“
IHS-Chef Holger Bonin analysiert, wie es um den Standort Österreich steht und was Europa insgesamt machen muss, um die Abwanderung der Industrie zu verhindern.
KURIER: Immer mehr Wirtschaftsvertreter sorgen sich um den Standort, sehen die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs in Gefahr. Wie lautet Ihre Diagnose?
Holger Bonin: Österreichs Industrie steckt in einer Rezession und tut sich schwer, da wieder herauszukommen. Das hat viel mit einer schon länger anhaltenden Investitionsschwäche zu tun. Und es hat etwas mit dem Energiepreisschock zu tun, der in Österreich besonders stark war. Und letztlich hat es auch mit der hartnäckigen, im Vergleich zur Eurozone hohen Inflation zu tun. Weil die Löhne nachziehen, entsteht für manche exportorientierte Unternehmen ein Kostenproblem, etwa im Verhältnis zu Deutschland, wo es eine stärkere Lohnzurückhaltung gegeben hat.
Häufig hört man die These, Europa würde aufgerieben zwischen den Blöcken USA und Asien, speziell China. Ist das mehr eine grundlegende Angst oder ein tatsächlich stattfindender, wenn auch schleichender Prozess?
Wohl beides. Eine Verschiebung der Wettbewerbsfähigkeit geschieht nicht von einem Jahr auf das nächste, sondern vollzieht sich immer schleichend. Aber man sieht an dem Umstand, wie jetzt die großen Krisen bewältigt werden, dass Asien und speziell auch Südostasien der Wachstumskern der Weltwirtschaft ist. Und auch die Amerikaner sind eher gestärkt aus der Krise gekommen.
Kann sich Europa da etwas abschauen?
Von China kann man – Stichwort Neue Seidenstraße – lernen, wie man neue Handelsbeziehungen sehr strategisch aufbaut, etwa in Afrika. Allerdings spielt Peking teilweise unfair und versucht politische Abhängigkeiten zu schaffen. Und die starke staatliche Lenkung der Wirtschaft birgt für das Land große Risiken. Wenn die Immobilienblase platzt oder die Jugendarbeitslosigkeit weiter steigt, kann das große Schockwellen auslösen. Für tragfähiger halte ich den auf die Kraft der freien Wirtschaft setzenden Ansatz der USA. Biden pumpt mit dem „Inflation Reduction Act“ sehr viel Geld in die Infrastruktur und den Klimaschutz. Dahinter steht eine klare industriepolitische Strategie, die primär auf marktwirtschaftliche Instrumente – Steuergutschriften, Zuschüsse und Darlehen – setzt.
Was heißt das für uns?
Europa sollte weder dem einen noch dem anderen Modell nachlaufen. Es muss seinen eigenen Weg finden, der von seinen Stärken – dazu zählt für mich auch der soziale Ausgleich – ausgeht. Es gilt, den Binnenmarkt weiter zu vertiefen und die technologische Souveränität strategisch voranzutreiben. Ein Klotz am Bein dabei ist allerdings, dass die USA und Asien bei digitalen Schlüsseltechnologien mittlerweile einen Vorsprung haben, der kaum noch aufzuholen ist.
Das heißt, die Gefahr der De-Industrialisierung ist durchaus real und nicht das übliche Krankjammern?
Ja, insbesondere für die energieintensiven exportorientierten Industrien stellt sich die Standortfrage. Dort überlegt man natürlich, mit der Produktion in Weltregionen zu gehen, in denen die Energie auf lange Sicht günstiger sein wird. In Österreich ist der Anteil dieser Industrien, wie Stahl und Chemie, an der Wirtschaftsleistung aber kleiner als in Deutschland, darum wird dort die Standortdebatte derzeit noch intensiver geführt als bei uns. Insgesamt ist es ein Vorteil, dass die österreichische Exportwirtschaft – dazu gehört auch der Tourismus – relativ stark diversifiziert ist.
Zurücklehnen geht dennoch nicht ...
Wenn es um die Wettbewerbsfähigkeit im globalen Standortwettbewerb geht, kann das kleine Österreich allein wenig tun, da ist die EU als Ganzes gefordert. Einfach ist es nicht, denn im Kern braucht das alte Europa ein neues Geschäftsmodell. Das ist in etwa so wie bei einem 50-jährigen Ingenieur, der auf Verbrenner spezialisiert ist und jetzt auf Elektromobilität umschulen muss. Mit dem bisherigen Modell sind wir sehr lange sehr gut gefahren, jetzt aber ist klar, dass wir damit in Zukunft nicht mehr die Dynamik hervorbringen werden, wie es andere Weltregionen tun. Ohne Anpassung, so schwer sie ist, drohen wir abgehängt zu werden.
Haben Sie in diesem Kontext auch konkrete Handlungsempfehlungen?
Es braucht mehr, nicht weniger EU, mit einer gut abgestimmten Gesamtstrategie. Dazu gehören die Förderung von Forschung und Entwicklung, Investitionen in leistungsfähige multilaterale Infrastrukturen, Bildungs- und Mobilitätspolitik gegen den Fachkräftemangel, und effiziente Regulierung. Bürokratische Strukturen gehören auf den Prüfstand, andererseits gilt es aber auch Regelungslücken, etwa im Bereich der Künstlichen Intelligenz, zu schließen.
Und für Österreich?
Das Land sollte weniger auf den großen Nachbarn Deutschland schauen, sondern sich an kleineren europäischen Ländern orientieren, die wettbewerbsfähiger sind. Es ist nicht wirklich ein Erfolg, wenn wir bei einem Digitalisierung-Ranking drei Plätze vor Deutschland landen, aber eine große Lücke zu den Spitzenreitern Dänemark und Niederlanden klafft. Österreich muss seine öffentlichen Finanzen in den Griff bekommen, denn sonst fehlt bald wegen der älter werdenden Bevölkerung das Geld für Zukunftsinvestitionen. Für attraktivere Investitions- und Produktionsbedingungen braucht es Strukturreformen. Und zwar bald, weil man nicht über Nacht den Schalter umlegen kann.
Wie beurteilen Sie das Gezerre um das EU-Lieferkettengesetz?
Daran zeigt sich zunächst einmal das Problem, dass die Entscheidungsprozesse auf EU-Ebene nicht mehr gut funktionieren. Sonst müsste man nicht in letzter Minute ein wichtiges Vorhaben kippen. Allgemein kann man sich fragen: Hat Europa überhaupt noch die Kraft, seine Werte in der Welt durchzusetzen? Auf der sachlichen Ebene muss man diskutieren, ob der auf dem Tisch liegende Entwurf gut gemacht ist. Lieferbeziehungen sind heute hochkomplexe Netzwerke, die sich ständig verändern. Dem trägt das EU-Lieferkettengesetz noch nicht ausreichend Rechnung. Ich will aber nicht missverstanden werden. Seine grundlegenden Ziele, also höhere Sozial- und Umweltstandards, sind für mich unterstützenswert.
Überzieht Europa Ihrer Meinung nach beim Klimaschutz, weil Unternehmen möglicherweise vertrieben werden und Emissionen dann in anderen Regionen das Weltklima schädigen?
Nein, ich finde strenge Klimaziele schon den richtigen Ansatz. Sie können dazu beitragen, dass Europa in diesem Bereich Technologieführerschaft erlangt. Dass wäre wichtig, denn bei der Digitalisierung geht sie sich nicht mehr aus. Bei grünen Technologien sehe ich da mehr Chancen.
Abschlussfrage: Bringt die von der Wirtschaft massiv geforderte Lohnnebenkosten-Senkung etwas?
Ich bin mir nicht sicher, wieviel das bringt. Da Arbeitskräfte knapp sind, könnte sich zumindest ein Teil der Absenkung in höhere Löhne übersetzen, die Entlastung für die Unternehmen wäre dann kleiner als vielleicht erhofft. Grundsätzlich ist es aber richtig, den Faktor Arbeit zu entlasten, wenn geklärt ist, wie das gegenfinanziert wird. Die Spielräume dafür sind wegen der steigenden Ausgaben in den Bereichen Gesundheit und Pensionen aber nicht sehr groß.
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