Hohe Vitamindosen sind umstritten

Hohe Vitamindosen sind umstritten
Mangelzustände mit Pillen ausgleichen: Das ist das Ziel der Orthomolekularen Medizin. Jetzt wird sie vom VKI heftig kritisiert.

Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und ständige Müdigkeit, der Arzt findet nichts und das Blutbild ist in Ordnung. Was also tun gegen den andauernden Erschöpfungszustand? Immer öfter setzen Patienten und ihre Ärzte in dieser Situation auf die Orthomolekulare Medizin (OM). Ihr Grundprinzip: Die gezielte Gabe von teilweise hohen Dosen an Vitaminen, Spurenelementen und Mineralien. Zuvor werden durch spezielle Labortests jene Substanzen ermittelt, an denen die Patienten aus Sicht der OM einen zusätzlichen Bedarf haben.

In einem neuen Test (Ausgabe Konsument 7/2012) kritisierte der Verein für Konsumenteninformation (VKI) vor allem die hohen Dosierungen, die zum Teil weit über den in der EU empfohlenen Höchstmengen liegen (siehe rechts) . VKI-Expertin Bärbel Klepp verweist auf eine aktuelle Untersuchung des unabhängigen Forschungsnetzwerks Cochrane Collaboration. "Demnach können zu hohe Dosen von antioxidativen Nahrungsergänzungsmitteln das Erkrankungsrisiko sogar erhöhen."

Ganz anders sieht dies der Mediziner Rainer Schroth, Präsident der Gesellschaft für Orthomolekulare Medizin (ÖGOM). Er spricht von Mangelerscheinungen, die sich schleichend entwickeln und den Körper über Jahre hinweg schwächen. Das Prinzip der OM erklärt er so: "Der menschliche Körper braucht für sein reibungsloses Funktionieren aller Organe bestimmte Mengen an Mikronährstoffen. Wir bemühen uns, eine Balance zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig zu finden." Dies sei auch keine alternative Therapieform: "Das ist Bestandteil der klassischen Medizin. Ein Beispiel: Omega-3-Fettsäuren sind orthomolekulare Substanzen. Sie haben sich in den vergangenen Jahren als Schutzfaktor fürs Herz etabliert."

Nicht notwendig

Bei ausgewogener Ernährung sind Nahrungsergänzungsmittel nicht notwendig, entgegnet Klepp: "Mit einer Kapsel täglich kann man ein Lotterleben nicht ausgleichen. Gesund leben, ausreichend bewegen und schlafen – praktizieren Sie das drei Monate lang, da verändert sich auch viel zum Besseren."

Schroth: "Seit 2003 ist im Ernährungsbericht von ‚dringendem Handlungsbedarf" die Rede, weil die Aufnahme von etlichen Substanzen sogar unter den empfohlenen Referenzwerten liegt." Das betreffe unter anderem Vitamin D, Folsäure und Kalzium. Laut VKI handle es sich aber um wenige Ausnahmefälle wie die Folsäure bei Kinderwunsch, wo eine zusätzliche Zufuhr gerechtfertigt ist.

In Eigenregie Vitaminpillen, Mineralien und Spurenelemente einzuwerfen lehnt auch Schroth ab. "Diese Maßnahmen gehören in ärztliche Hände. Ungezielte Verabreichung ist völliger Unsinn. Um richtig behandeln zu können, muss ich genau wissen, was in welcher Menge benötigt wird."

Test: Teuer und kaum wirksam

Fünf Wiener Allgemeinmediziner wurden von einer Testerin des VKI mit Überlastungsbeschwerden konsultiert. Die größten Kritikpunkte:

Wirksamkeit Ausreichende wissenschaftliche Belege fehlen. VKI-Expertin Bärbel Klepp: "Es wurden großteils Rezepte für Nahrungsergänzungsmittel ausgestellt. Diese dürfen aber gar nicht mehr können als Nahrungsmittel."

Kosten Inklusive der Kosten für Labor und Präparate musste die Testerin pro Behandlung zwischen 230 und 492 € ausgeben. Die Kassen zahlen nicht.

Vertrieb Die Präparate werden teilweise von den Ärzten selbst verkauft. Der VKI erhob auch anonym Preisnachlässe und Provisionen für Ärzte.

Rainer Schroth, Präsident der Ärzte-Gesellschaft für Orthomolekulare Medizin, wehrt sich im KURIER-Gespräch. "Das sind falsche und unseriöse Behauptungen. Man hat nicht einmal eine Stellungnahme eingeholt. Die Interpretationen einer Überdosierung sind hinterfragenswert. Auch wird ein Test mit nur einer Person und fünf Ärzten von keinem Gremium anerkannt."

Info: Behandlung mit Mikronährstoffen

Methode

Unter Orthomolekularer Medizin ("orthos", griech. für richtig, "molekular", lat. für Baustein) versteht man die gezielte Behandlung mit Mikronährstoffen. Dadurch sollen die natürlichen Regulationsmechanismen und biochemischen Vorgänge im Körper verbessert werden.

Geschichte

Seit rund 50 Jahren beschäftigen sich Mediziner ausgehend von den USA mit orthomolekularen Nährstofftherapien. Genau beschrieben und geprägt wurde der Begriff in den 1960er-Jahren vom Chemie-Nobelpreisträger Linus Pauling. Er nannte sie später "Orthomolekulare Medizin".

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