Griechenland: Zuwanderer als Sündenböcke

Griechenland: Zuwanderer als Sündenböcke
Die Wirtschaftskrise schürt die Wut auf unerwünschte Immigranten. Die Politik agiert hilflos, Übergriffe nehmen zu.

Den glutheißen griechischen August verbringen die Bewohner von Patission, einem einst schicken Bürgerviertel von Athen, wenn möglich am Meer. Doch die Zeiten haben sich geändert. Das Viertel verfällt, Gehsteige bröckeln, Läden schließen. Wer es sich leisten kann, zieht weg.

In die leer stehenden Wohnungen rückten Zuwanderer nach, die meisten aus Afrika, Pakistan und Bangladesch. Wer heute abends durch die schmalen Seitengassen des Bezirks schlendert, sieht kaum Griechen, sondern überwiegend Schwarzafrikaner – beim Tratschen, beim Fußballspielen, beim Spazieren.

Den meisten alteingesessenen Bewohnern Patissions ist dies ein Dorn im Auge. In kaum einem griechischen Wahlbezirk gab es beim jüngsten Urnengang höhere Werte für Griechenlands rasant wachsende rechte und neo-faschistische Parteien als hier. "Sollen sie doch alle wieder nach Hause gehen", redet sich eine junge Frau in Rage. Ihren Namen will die hübsche Mittzwanzigerin nicht nennen, nur so viel lässt sich die bekennende Anhängerin der ultra-rechten "Goldenen Morgenröte" entlocken: "Wir Griechen haben selbst schon genug Probleme."

"Echte Griechen"

Die wachsende Armut, die steigende Kriminalitätsrate – in Patission wurde in den vergangenen Monaten in fast jede zweite Wohnung eingebrochen –, all das ist Wasser auf die Mühlen der Neofaschisten. Wenn sie auf Athens Syntagma-Platz Lebensmittel austeilen, werden nur Griechen beschenkt. Und griechisches Blut bei Spendenaktionen dürften künftig nur noch "echte Griechen erhalten", fordern sie. Mit Parolen wie "Griechenland den Griechen" hat die martialische "Goldene Morgenröte" 18 Abgeordnete ins Parlament gebracht.

Wie Patission, wie Athen und alle anderen größeren griechischen Städte ringt das Land mit einem Zuwandereransturm, den das krisengeplagte Hellas nicht verkraften kann. Gut eine Million Ausländer leben in Griechenland – ein Zehntel der Bevölkerung, geschätzte 600.000 davon sind illegal. Kaum einer von ihnen hat Chancen auf reguläre Arbeit – in einer Zeit, in der jeder vierte Grieche ohne Job ist.

Schuld an der Misere, so propagieren es die drei ultra-rechten Parteien des Landes (insgesamt rund 20 Prozent der Wählerstimmen), seien die Ausländer. Und die bekommen Wut, Frust und Hass vieler Griechen immer deutlicher zu spüren. Mehr als 500 Migranten wurden heuer attackiert, verprügelt, getreten, aus Bussen gezerrt oder mit Messern verletzt.

Das bisher letzte Opfer: ein 19-jähriger Iraker, der mitten im Zentrum Athens einer Gruppe schwarz gekleideter Männer in die Hände fiel. Mit Steinen, Fäusten und Messern gingen sie auf den Jugendlichen los, bis er verblutete.

Abschiebungen

Bis heute wurde keiner der Angreifer verhaftet – wie auch in fast keinem der vielen vorangegangenen Fälle rassistisch motivierter Übergriffe. Griechenlands Premier Antonis Samaras hingegen blies zu einer anderen Maßnahme: Bei einer landesweiten Großrazzia ließ er vergangene Woche Tausende Migranten überprüfen. Wer keine Papiere hatte, wurde festgenommen – 1600 allein im August. Bis Jahresende, so versprach es die Regierung, wolle man 7000 "Illegale" in i­hre Heimat abschieben.

Doch mit Deportationen allein sei es nicht getan, empört sich Athens Bürgermeister Giorgos Kaminis. "Alle müssen dazu beitragen, dass nicht tagtäglich Menschen auf offener Straße niedergestochen werden", appelliert er an die Griechen, die Attacken im Geheimen nicht länger gut zu heißen. "Der Rechtsstaat ist der einzige Ausweg aus der Gewaltkrise."

Nachgefragt: "Die Polizei hat ein blindes Auge"

Griechenland: Zuwanderer als Sündenböcke

Zuwanderer werden auf offener Straße a­ttackiert, doch ihre Angreifer haben nichts zu befürchten. Dass Griechenlands Polizei wegsieht, ist einer der schwerwiegendsten Vorwürfe der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) gegen die Führung in Athen. HRW-Mitarbeiter Benjamin Ward sprach mit dem KURIER über...

... die Anti-Migranten-Stimmung in Griechenland

In der griechischen Öffentlichkeit werden Migranten in Verbindung mit kriminellen Aktivitäten gebracht. Auch die Autoritäten verbinden Migranten mit Verbrechen. Die Zuwanderer werden als Sicherheitsbedrohung dargestellt.

... die Ermordung eines irakischen Jugendlichen

Der Justizminister hat die Tat scharf verurteilt, und das ist wichtig. Denn es geschah zum ersten Mal, dass ein griechischer Regierungspolitiker so deutlich war. Aber auch die restliche Regierung muss sich bewusst sein, welche Sprache sie in Hinblick auf Migranten benutzt.

... den Zustrom von Flüchtlingen

In Sachen Migration trägt Griechenland eine unproportional schwere Last. Nach den Schengen-R­egeln muss der Asylsuchende in dem Land seinen Antrag stellen, wo er in die Schengen-Zone einreist – und das ist derzeit meistens, wegen seiner geografischen Lage, Griechenland. Europa müsste viel mehr tun, um etwas von dieser Last auf sich zu nehmen.

... das Wegschauen der Polizei

Die Polizei hat angesichts der Gewalt ein blindes Auge. In Athen gibt es ein paar Orte, wo es immer wieder zu Attacken gegen Zuwanderer kommt. Einer davon liegt in nächster Nähe zu einer Polizeistation. Es wäre kein großer Aufwand, dort einzuschreiten, immer wieder Patrouillen hinzuschicken. Aber die Polizei verhält sich gleichgültig. Wenn die Attackierten zur Polizei gehen, um zu berichten, unternimmt die Polizei auch meist wenig. Das führt zu einem Klima der Straflosigkeit.

... Großrazzien gegen Migranten

Wir sind sehr besorgt darüber, denn die Basis dieser Polizei-Operation scheint zu sein: Wenn jemand wie ein Migrant aussieht, etwa aufgrund seiner Hautfarbe, wird er überprüft. Das ist nach unserer Auffassung ein Missbrauch. Die Polizei sollte Menschen nur bei Verdacht auf ein Verbrechen stoppen.

Grenze zur Türkei: Einfallstor für Einwanderer

Griechenland: Zuwanderer als Sündenböcke
Seit der Gründung der Europäischen Grenzsicherungsagentur "Frontex" sind bislang Kosten in Höhe von einer Milliarde Euro angefallen.

Drei von vier illegalen Zuwanderern, die es in die EU schaffen, kommen über die griechisch-türkische Landgrenze – allein im Vorjahr 55.000. 206 Kilometer ist die Grenze lang, meist folgt sie dem Lauf des Grenzflusses Evros.

Doch über eine schmale Strecke von nur rund 12 Kilometern erstreckt sich das eigentliche Einfallstor nach Europa. Hier versuchen Nacht für Nacht Dutzende Flüchtlinge vor allem aus Afrika und aus Asien ihr Glück – mit immer weniger Erfolg. Mehr als hundert internationale Polizisten, darunter auch österreichische, patrouillieren hier zusammen mit griechischen Grenzschützern, versuchen mit Wärmebildkameras, Nachtsichtgeräten und Spürhunden die illegalen Einwanderer aufzugreifen.

Doch auch wenn immer mehr Flüchtlinge an der griechischen Grenze entdeckt werden, versiegt ist der Zustrom nicht – und er stellt den bankrotten griechischen Staat vor schwerwiegende Probleme. Die Flüchtlinge dürfen nicht weiterreisen, sondern müssen in Griechenland ihren Asylantrag stellen. Dort aber quellen die Auffanglager über, die illegalen Immigranten werden in notdürftig umgebaute Lagerhallen gepfercht, Augenzeugen berichten von schrecklichen Zuständen.

Wer kann, setzt sich ab und flüchtet, meist nach Athen. Weit mehr als hunderttausend Illegale sollen allein in der griechischen Hauptstadt vorübergehend Unterschlupf gefunden haben. Ihre Hoffnung ist die weiterreise nach Deutschland, Frankreich, Italien. Viele EU-Staaten sind verärgert, dass Griechenland seine Grenzen nicht besser schützt. Sie drohten heuer im Februar gar mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengenraum.

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