Experte zu Temu und Shein: "Konsum ist Zeitvertreib"

FILE PHOTO: Illustration picture of e-commerce platform Temu
Der deutsche E-Commerce-Unternehmer und Handelsexperte Alexander Graf über den Erfolg der chinesischen Plattformen in Europa.

Direktversand aus China gepaart mit ausgefeilten Algorithmen, die Kunden in der App halten. Die chinesischen Online-Plattformen Temu und Shein lassen die Konkurrenz alt aussehen und werden auch für Amazon zur Bedrohung. 

Der KURIER hat den deutschen E-Commerce-Untenrehmer und Berater Alexander Graf zu den Gründen für den Erfolg der chinesischen Plattformen befragt.

KURIER: Shein und Temu sind in den vergangenen Jahren in Europa explosionsartig gewachsen. Was macht den Erfolg dieser Plattformen aus?
Alexander Graf: Beide Plattformen disruptieren das Handelsdreieck von gutem Preis, großem Angebot und schneller Verfügbarkeit. Amazon hat das Modell in die Online-Welt übertragen und sich damit als große Plattform etabliert, an der keiner vorbei kann. Die chinesischen Plattformen haben die schnelle Verfügbarkeit aus der Gleichung herausgenommen. Dafür attackieren sie beim Preis. Die Kunden können 20 bis 30 Prozent bei Produkten sparen, die sie nicht sofort brauchen und sie bekommen eine ähnliche Qualität. Also kaufen sie bei Shein und Temu. 

Den Plattformen hängt die Bezeichnung Billighändler nach. Ist die Qualität wirklich ähnlich? 
Ja, das mit der Billigmode stimmt nicht. Alles was sich bewegen lässt, kommt heute aus China. Die sehr günstigen und auch die sehr teuren Qualitäten. Das gilt für Handtaschen genauso wie für Drohnen oder TV-Geräte. Auch die T-Shirts haben mindestens Zara-Qualität. Sehr viele Waren, die bei Temu verkauft werden, gab es auch davor schon bei Amazon. Die Plattformen haben kein Interesse, die Kunden zu verlieren. Sie sollen zufrieden sein und wieder kaufen. Das funktioniert mit Schrottqualität nicht.

Experte zu Temu und Shein: "Konsum ist Zeitvertreib"

Alexander Graf ist E-Commerce-Unternehmer und CEO des Software-Unternehmens Spryker. Er betreibt auch den Podcast "Kassenzone" und berät auch Unternehmen.

Sie sprechen in Zusammenhang mit Temu von einem neuem Geschäftsmodell: Retail Media. Wie funktioniert das?
Temu vermittelt zwischen Angebot und Nachfrage. Das Warenrisiko liegt beim Händler oder Hersteller, die auch Werbung schalten müssen, damit ihre Produkte gefunden werden. Wenn das Modell nicht mehr auf der Produktmarge basiert, sind wir in einem Mediengeschäftsmodell. Temu schafft es, die Kunden in der App zu halten und Nachfrage zu erzeugen. Das ist ähnlich wie früher in der Innenstadt, aber mit besseren Preisen. Wenn ich am Handy mehr Anreize bekomme, günstige Dinge zu kaufen, dann geht die Nachfrage eben dorthin. 

Macht das nicht Amazon mit seinem Marktplatz genauso?
Der Unterschied ist, dass sich die Werbung auf Amazon auf Produkte bezieht, die schon in der Nähe des Endkunden gelagert sind. Das treibt den Preis im Vergleich zur Fabrik, die direkt über Temu verkauft. Amazons Geschäft ist sehr infrastrukturlastig. Das ist teurer als die Flieger von China nach Europa. 

Wie geht Amazon mit der neuen Konkurrenz um?
Ich weiß es nicht. Aber ich denke, dass die schnelldrehenden Lager vor Ort immer mehr zum Ballast werden. Die braucht man eigentlich nicht mehr, außer vielleicht für Lebensmittel oder Drogerieprodukte. Alle anderen Produkte, die man nicht sofort braucht, werden genauso wie früher beim Bestellen aus den Katalogen auch beim Direktversand aus China in einer Woche geliefert und sie sind billiger. Auch der CO2-Austoß ist geringer, weil die Ware nicht so oft bewegt werden muss. 

Der Direktversand per Flugzeug soll umweltfreundlicher sein?
Ich wäre jedenfalls vorsichtig mit der Behauptung, dass es schlechter für die Umwelt wäre. 

Auch TikTok setzt zunehmend auf Shopping. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Tiktok Shop auch im deutschsprachigen Raum verfügbar ist. Wie beurteilen Sie die Marktchancen?
Sehr groß. Konsum ist Zeitvertreib und wir verbringen heute schon immer mehr Zeit in den Apps. 

Wie können sich europäische Händler und Online-Händler in diesem Umfeld positionieren?
Wenn ich Händler bin und meine Produkte sind austauschbar, dann hab ich ein Problem. Man braucht den Zugang zum Kunden, muss nah an ihn ran. Und das mit günstigeren Preisen als man heute Ware ins Lager bekommt. Der Zugang zum Kunden erfolgt zunehmend digital. Sie sollten sich überlegen, ob sie selbst zur Plattform werden könnten, damit sie rauskommen aus dem Geschäftsmodell der Handelsmarke. Man kann viel tun, aber es wird immer schwerer. 

Gibt es in Europa Beispiele, die das geschafft haben?
Es gibt in Europa noch kein Plattformmodell, das an Shein und Temu herankommt. Es versuchen aber alle, ihre Geschäftsmodelle anzupassen. 

Handelsverbände fordern die Abschaffung von Zollfreigrenzen, um die Warenflut aus China einzudämmen. Wird das dem Handel helfen?
Es kann Markteintritte verlangsamen und den Markt weniger attraktiv machen. Es ändert aber nichts daran, dass das Geschäftsmodell der chinesischen Plattformen überlegen ist. Weil beim Verkauf aus der Fabrik direkt zum Endkunden nur die Ware produziert wird, die auch verkauft wird und weil keine Zwischenlager mehr notwendig sind. Jeder Pick- und Packvorgang kostet. Das macht in einer Welt, in der Produkte immer günstiger werden, keinen Sinn. Das kann man auch nicht eindämmen, indem man versucht, Zollfreigrenzen abzuschaffen. Die meisten Produkte sind davon ohnehin nicht betroffen. 

Für den Handel in den Innenstädten bedeutet das nichts Gutes?
Das war auch schon davor so. Das sieht man vielleicht in Wien, das sehr stark touristisch geprägt ist, nicht so stark. Aber auch dort gibt es weniger Händler. Wenn man sich die alten Handelsmodelle ansieht, ist das eher Folklore als erfolgreicher Handel. Der Handel wird eine zunehmend geringere Rolle bei der Refinanzierung der Innenstadtinfrastruktur spielen. Die zweiten und dritten Etagen werden schon gar nicht mehr genutzt. Wenn man mit den Wettbewerbern nicht sinnvoll konkurrieren kann, wird es schwer. 

Kommentare