Europa braucht Russengas

Experte: Unabhängigkeit von Importen ist auch auf lange Sicht unrealistisch.

Worum geht es beim aktuellen Gasstreit?

Vordergründig ums liebe Geld: Wie 2006 und 2009 streiten Russland und Ukraine über unbezahlte Gasrechnungen. Dieses Mal sind die Fronten aber wegen der Bürgerkriegszustände in der Ostukraine verhärtet. Russlands Energiemonopolist Gazprom droht, die Lieferungen einzustellen, wenn Kiew nicht Milliarden nach Moskau überweist (siehe unten). Ab Dienstag könnte der Gashahn zu sein.

Welche Rolle spielt dabei die EU?

Die EU wäre Leidtragende eines russischen Lieferboykotts. Der Großteil des Gases wird nämlich über die Ukraine nach Europa transportiert. Zugleich zahlt sie indirekt mit: Die Ukraine kann die offenen Rechnungen nur dank der 27 Mrd. US-Dollar an Hilfskrediten begleichen, die der IWF und die EU zugesagt haben.

Wie stark ist die EU auf russisches Gas angewiesen?

Sehr. Gut die Hälfte ihres Energiebedarfs deckt die EU aus Einfuhren, was pro Tag mehr als eine Milliarde Euro kostet. Bei Gas kommen sogar zwei Drittel aus dem Ausland: 39 Prozent aus Russland, 34 Prozent aus Norwegen und 14 Prozent aus Algerien. Die Abhängigkeit variiert stark: Briten, Spanier, Portugiesen und Iren beziehen kein Gas aus Russland. Finnland, die baltischen Staaten, Bulgarien und die Slowakei sind zu 100 Prozent darauf angewiesen.

Wie kann die EU unabhängiger werden?

Beim Gipfel am 26. Juni beraten die EU-Staats- und Regierungschefs über Vorschläge der Kommission. Neues findet sich kaum: Bessere Gebäudedämmung soll den Gasverbrauch senken. Polens Premier Donald Tusk will, dass die EU ihre Einkaufsmacht gegenüber Gazprom bündelt. Die Kommission lässt das – Kritiker sprechen von "Planwirtschaft" – prüfen. Ob sich die EU-Länder darauf überhaupt einigen können, ist fraglich.

Woher könnte das Gas sonst noch kommen?

Norwegen und Nordafrika sollen mehr liefern. 10 Milliarden Kubikmeter Gas könnten 2020 über die neue TAP-Pipeline aus Aserbaidschan in Italien ankommen, hofft die EU. Flüssiggas soll aus Nordamerika, Katar, Australien und Nigeria eingeschifft werden. Das wären nur "homöopathische Dosen", sagt Florian Haslauer, Chef von AT Kearney Österreich. Es sei unrealistisch, dass Europa unabhängig von russischen Gasimporten werde – selbst auf lange Sicht. Engpässe in Südosteuropa wären so gar nicht zu lösen. Zudem würde der Gaspreis um weitere 50 Prozent steigen. Für Europas Industrie wäre das fatal.

Ist denn in der EU seit 2006 gar nichts passiert?

Wenig. Die Speicher wurden ausgebaut – so könnte Österreich nun seinen gesamten Jahresbedarf einlagern. Allerdings gehört das Gas nur etwa zur Hälfte heimischen Firmen wie der OMV und RAG. Teile müssten im Bedarfsfall ins Ausland gepumpt werden. Das ist technisch möglich, weil Pipelineströme nun erstmals umgedreht werden können.

Wäre Schiefergas ("Fracking") die Lösung?

Nein. EU-Länder wie Frankreich, Deutschland oder Österreich schließen eine Förderung aus Angst vor Umweltschäden aus. Selbst wenn sich Fracking in Polen, Ukraine und Großbritannien durchsetzen sollte, würde das nur 5 bis 6 Prozent des Gasbedarfs in Europa decken, sagt Energie-Experte Haslauer. Der amerikanische Gasrausch hat viele Gründe: Die Schiefergas-Vorkommen sind größer und billiger zu erschließen. Und: Nur in den USA gehören Bodenschätze dem Grundstückbesitzer und nicht dem Staat. Das liefert starke Anreize, der Förderung zuzustimmen.

Nächster Anlauf am Montag in Brüssel: Die x-te Verhandlungsrunde zwischen der Ukraine und Russland am Freitagabend in Berlin brachte abermals keine Einigung im Streit über unbezahlte Gasrechnungen. Immerhin: Kiew hat erste 580 Millionen Euro (für Februar und März 2014) an den russischen Energiekonzern Gazprom überwiesen. Insgesamt beziffert Moskau die offenen Schulden seit November 2013 mit 3,8 Milliarden Euro.

„Wir haben heute noch kein abschließendes Paket, aber Fortschritte erreicht“, sagte EU-Energiekommissar Günther Oettinger, der um De-Eskalation bemüht war.
Kein Geld, kein Gas: Russlands Energieminister Alexander Nowak hatte gedroht, die Lieferungen ab Dienstag einzustellen, wenn kein Geld fließt. Künftig würde nur gegen Vorkasse geliefert. Die Ukraine will zuvor aber den künftigen Preis geklärt haben. Die Russen haben zuletzt nämlich die Kosten hochgetrieben: Dem russlandfreundlichen Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch hatte Gazprom satte Rabatte gewährt; der Gaspreis belief sich für ihn auf 268 Dollar (je 1000 Kubikmeter). Die neue Führung soll jedoch wie zuvor 485 Dollar zahlen. Der IWF setzt realistische Preise ungefähr in der Mitte an – was in etwa dem EU-Durchschnitt entsprechen würde.

Dreht Russland den Hahn zu, wäre Westeuropa wie schon 2006 und 2009 betroffen: Die Ukraine ist das Haupttransitland für Russengas. Umgekehrt ist Gazprom auf den Absatzmarkt Europa angewiesen, weil dieser die höchsten Gaspreise bezahlt.

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