Dot.com-Crash: Wie er passierte – und was wir daraus gelernt haben
Als das Internet laufen lernte, entstand an den Börsen eine Traumwelt – bis zum bösen Erwachen. Aktuell ist ebenfalls vieles teuer. Droht die nächste Blase?
Ein sonniger Samstag im März. Franz Gschiegl wundert sich, dass der Saal trotz des tollen Wetters randvoll ist. Er hält einen Vortrag über die Börse – ein Thema, das heute nicht sehr viele Interessierte anlocken würde. Damals, im März 2000, war aber alles möglich. Damals konnte Gschiegl als Chef der Erste-Fondsgesellschaft nur noch staunen, was in der Börsenwelt vor sich ging: „Sogar Dieter Bohlen wollte mit Modern Talking an die Börse gehen.“ Vor allem die Aktienkurse von Tech-Unternehmen explodierten regelrecht. Bis die Blase mit lautem Knall platzte.
Klicks als Währung
Mit der Verbreitung des Internets schienen vor der Jahrtausendwende Geschäftsmodelle möglich, die sich üblichen Bewertungskriterien entzogen. Gewinne? Nicht nötig. Klicks galten als neue Währung. Einige der Ideen setzten sich durch und entwickelten sich tatsächlich zu gewinnträchtigen Konzernen. Ein plakatives Beispiel dafür ist Amazon.
Das Unternehmen wurde 1994 als Online-Buchhandlung gegründet. Mitte Mai 1997 erfolgte der Börsengang zu 18 US-Dollar je Aktie (entspricht nach drei Aktiensplits 1,50 Dollar). Derzeit wird das Papier für mehr als 2.000 Dollar gehandelt. Nicht nur Gründer und Chef Jeff Bezos ist damit reich geworden.
Bei vielen anderen Unternehmen erlitten die Anleger jedoch massive Verluste. Als „Volksaktie“ kam die Deutsche Telekom im November 1996 zu umgerechnet 14,57 Euro je Aktie an die Frankfurter Börse. Das „Volk“ griff auch eifrig zu und trieb den Kurs bis zum März 2000 über die Marke von 1000 Euro. Anschließend ging es allerdings steil bergab.
Der Schauspieler Manfred Krug hatte in Werbespots für die T-Aktie geworben und bezeichnete dies später als seinen größten beruflichen Fehler: „Ich entschuldige mich bei allen Mitmenschen, die eine von mir empfohlene Aktie gekauft haben und enttäuscht worden sind.“
New Economy
Der Technologiewandel mit Internet und Handys für alle Haushalte, eine Start-up-Szene ohne passende Risikofinanzierung und die Illusion, dass bisherige Bewertungsregeln im Internet-Zeitalter obsolet sind; diese drei Ursachen sieht Peter Brezinschek, Chefanalyst der Raiffeisen Bank International, als Hauptursachen für die dot.com-Blase. Die neuen Technologien regten die Fantasie von Anlegern, die quasi über Nacht reich werden wollten, allzu sehr an. „Tech ist ja nicht untergegangen. Die Frage war nur: Sind die Unternehmen richtig bewertet“, sagt Monika Rosen, Chefanalystin im Private Banking der Bank Austria.
Sündteuer
Als ein Bewertungskriterium gilt das sogenannte KGV (Kurs-Gewinn-Verhältnis), das zeigt, wie oft der Unternehmensgewinn im Aktienkurs enthalten ist. Im März 2000 lag dieser Wert für die US-Technologiebörse Nasdaq bei 73. Sündteuer wäre da noch eine freundliche Untertreibung gewesen. Aktuell hält das KGV der Nasdaq bei 26, was eigentlich auch schon als teuer gilt.
Inspiriert von der US-Börsenentwicklung erfanden auch europäische Aktienmärkte eigene Segmente für die neuen TMT-Börsenstars (steht für Technologie, Medien, Telekom).
Am 10. März 1997 wurde an der Frankfurter Börse der „Neue Markt“ vom Stapel gelassen. Nach drei Jahren Rallye und einer Performance von 1.600 Prozent erreichte der Index des Neuen Marktes exakt zum dritten Geburtstag ein Rekordhoch. Danach ging es diesseits und jenseits des Atlantiks mit den gefeierten Stars steil bergab. Mit Gigabell schlitterte im September 2000 der erste Neue-Markt-Wert in die Pleite. Viele folgten. Auch an der Wiener Börse: Beispiele dafür waren der Spieleentwickler JoWooD oder der Telekom-Anbieter CyberTron. Kurserholungen gab es höchstens kurzfristig. Weitere Schocks folgten, etwa die Terroranschläge am 9. September 2001 in den USA. Nach Verlusten von 96 Prozent wurde der Neue Markt am 5. Juni 2003 wieder geschlossen.
Die US-Technologiebörse Nasdaq überlebte den Orkan. „Sie brauchte allerdings 15 Jahre, um das alte Hoch wieder zu erreichen“, erinnert Aktien-Expertin Monika Rosen. „Das zeigt, dass sich Geduld an der Börse auszahlt.“
Illusionen
Die Goldgräberstimmung vor der Jahrtausendwende lockte viele Unternehmen an, die viel zu viel Börsengeld ins Marketing statt ins eigentliche Geschäft steckten. Damit wurde den Anlegern Sand in die Augen gestreut. Es standen aber auch Firmengründer und Manager im Rampenlicht, die mit Scheinumsätzen Traumbilder vorgaukelten. Ihnen standen Anleger gegenüber, die sich vom Kürzel dot.com blenden ließen und zugriffen, ohne sich mit dem Geschäftsmodell zu befassen. „Früher waren nicht einmal Bilanzen nötig, um an die Börse zu gehen“, erinnert sich Erste-Manager Gschiegl. „Wir haben oft in der Familie gescherzt: Bringen wir doch den Heurigen unter Barrique.com an die Börse.“ Heute wären die Börse-Zulassungen jedenfalls viel schärfer als damals, Start-ups können gar nicht an die Börse gehen.
Verrückte Bewertungen
„Den dot.coms war Folgendes gemeinsam: Veränderung für die Welt, verrückte Bewertungen und höchst unprofitabel“, fasst RBI-Experte Brezinschek zusammen. Diese drei Attribute würden heute auch für Tesla gut passen.
Was ließe sich aus der Blase für heute lernen? Bei faszinierendem Technologiewandel wären Anleger immer bereit, hohe Aktienpreise zu bezahlen (siehe Tesla). Und: Nicht die guten alten Bewertungskriterien, sondern die Hochstapler diverser dot.coms wurden abgelöst. Auch wenn die Aktienkurse in etlichen Branchen zuletzt wieder beängstigend gestiegen sind, Blasen sehen die Geldprofis noch keine. „Wir sind noch nicht im rot leuchtenden Bereich, aber im orangen“, meint Franz Gschiegl. Schuld an den luftigen Kurshöhen sind vor allem die Zinsen im Null- oder Negativbereich und die Suche der Anleger nach Alternativen.
Tech-Dominanz
Ein Blick auf die Zusammensetzung des S&P 500, dem Index, der den breiten US-Aktienmarkt abbildet, zeigt die aktuelle Dominanz der Tech-Werte. Die Bereiche IT und Telekom stehen für ein Drittel des Gesamtmarktes.
Vieles davon ist allerdings wenigen Werten zuzuschreiben: Auf Apple, Alphabet (Google), Amazon, Microsoft und Facebook entfallen fast ein Fünftel des S&P-Gewichts. Wäre im Dezember nicht mit Saudi Aramco ein Ölriese an die Börse gegangen, würden auch weiterhin die Internet- und Tech-Giganten die größten Konzerne der Welt stellen.
Ob die Beherrscher der 2010er-Jahre an den Börsen auch die 20er-Jahre dominieren, ist offen. Möglich ist, dass Anleger Appetit auf andere Bereiche bekommen. Zum Beispiel auf Unternehmen, die mit neuen Ideen den Klimawandel aufhalten können. Grüne Energie allein ist zu wenig – was die Talfahrt der Solarwerte gezeigt hat.
Wie sehr neue Technologien die Welt erobern können, ist an der raschen Verbreitung von Handys abzulesen:
337 Unternehmen
waren im März 2001 im Neuen Markt notiert. Da waren die Kurse schon ein Jahr lang auf Talfahrt. Nur 54 Gesellschaften davon haben auch einmal eine Dividende bezahlt
8.559 Punkte
erreichte der Nemax, der Index des Neuen Marktes, am 10. März 2000 – ein Rekordhoch. Dann ging es um 96 Prozent nach unten, bis das Börsensegment im Juni 2003 geschlossen wurde
606 Prozent
Kursgewinn im Vergleich zum Ausgabepreis von 9 Dollar legte der Social-Networking-Dienst Theglobe.com am ersten Tag an der Nasdaq im November 1998 hin – ein Rekord. Als die Blase platzte, stürzte der Kurs auf 0,16 Dollar
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