China: Der steinige Weg Richtung Markt

Besorgte Sparer versammelten sich vor ihrer Bank, weil es Pleitegerüchte gab. Staatliche Einlagensicherung gibt es noch keine.
Professor Xuewu Gu über Sparersorgen, den Umbau der Wirtschaft und den Kampf gegen Korruption.

KURIER: Chinas Führung hat im November entschieden, dem Markt eine "entscheidende"
Rolle einzuräumen. Können Sie das für den Westen übersetzen?

Xuewu Gu: Die chinesische Führung hat erkannt, dass es viel effektiver ist, die Verwendung wirtschaftsrelevanter Ressourcen dem Markt zu überlassen. Die bisherige Praxis, dass der Staat sich zu sehr in die Wirtschaft einmischt, will die neue Regierungabschaffen.
Um mit dem Ministerpräsident Li Keqiang zu sprechen: Alles, was gesetzlich nicht verboten ist, soll für die Unternehmen erlaubt werden.

Anfang März ist erstmals eine Unternehmensanleihe in China geplatzt, der Staat ist nicht eingesprungen. Anfang April platzte die nächste Anleihe. Sind das Erziehungsmaßnahmen der Regierung in Sachen Anleger-Risiko?

Nicht nur Erziehungsmaßnahmen in Sachen Anleger-Risiko, sondern auch ein Alarm für viele Chinesen, die daran gewöhnt sind, dass der Staat jederzeit als Retter von zahlungsunfähigen Unternehmen einspringen würde. Offensichtlich kann und will der Staat jetzt nicht mehr Firmen am Leben halten, die nicht mehr konkurrenzfähig geworden sind.

Wenn die Lust des Staates nachlässt, bei Finanzproblemen als Nothelfer einzuspringen – wie wirkt sich das auf die Kreditvergabe durch Banken aus?

Die chinesischen Banken sind zunehmend von den Aufsichtsbehörden aufgefordert, ausreichendes Eigenkapital einzuhalten. Derzeit beträgt die Eigenkapitalquote der chinesischen Banken im Durchschnitt etwa zwölf Prozent. Angesichts der noch relativ niedrigen Quote von faulen Krediten in Höhe von etwa zwei Prozent dürften die Banken in der Lage sein sich selbst zu helfen. Allerdings würde sich die Situation dramatisch verschlechtern, wenn die befürchtete Blase des Immobilienmarktes platzen würde.

In Ostchina gab es vor kurzem einen Bankrun auf kleinere Institute, weil Gerüchte über die Insolvenz eines Instituts die Runde machten. Die Sparer sind nervös, weil es keine staatliche Einlagensicherung gibt. Wann könnte diese eingeführt werden?

Der Ansturm auf die Kasse der Agrar-Kommerzbank Sheyang in der Provinz Jiangsu am 24. März war in der Tat ein Weckruf für die chinesische Regierung. Es handelt sich um eine winzige lokale Bank mit etwa zwölf Milliarden Yuan (umgerechnet etwa zwei Milliarden US Dollar) privaten Einlagen. Schockiert wurde dadurch vor allem die lokale Regierung. Wenn es nicht täuscht, wird dieser Zwischenfall die seit Jahren diskutierte Einführung einer staatlichen Einlagensicherung beschleunigen. Ein konkreter Zeitplan lässt sich jedoch noch nicht erblicken.

Zum Wirtschaftswachstum Chinas: Wie fundiert und glaubhaft sind die Zahlen, die das offizielle China bekannt gibt?

Im heutigen China gibt es durchaus ein modernes statistisches System, das nach den internationalen Standards arbeitet. Verzerrungen könnten jedoch dort eintreten, wenn professionell geschulte Statistiker sich Beamten beugen, die aus politischen Motiven versuchen, Angaben über ihre Regionen zu manipulieren. Dies passiert jedoch wegen zunehmender digitaler Vernetzungen und Standardisierungen immer seltener.

Ist eine Abkühlung des Wirtschaftswachstums von 9,3 Prozent im Jahr 2011 auf "nur" noch 7 bis 8 Prozent in den Jahren danach im chinesischen Alltagsleben zu spüren? Und worauf ist dieser Rückgang zurückzuführen?

Zu spüren war eine leichte Steigerung der Arbeitslosigkeit bei Unternehmen, die von Exporten abhängig sind.
Auch im Allgemeinen ist es für die Menschen immer schwieriger geworden eine anständige Arbeit zu finden. Der Rückgang war ohne Zweifel ein Stück Nachwirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrisen in Amerika und Europa, die zusammen fast 35 Prozent der chinesischen Ausfuhren abnehmen.

Stimmt es, dass das offizielle China zugunsten einer gesünderen Umwelt auf Wirtschaftswachstum verzichtet? Wie gelingt der Spagat zwischen dem Ziel, für eine reinere Umwelt zu sorgen, und dem Druck, Aber-Millionen an Arbeitsplätzen schaffen zu müssen?

In China ist eine umweltpolitische "Doppelkontrolle" im Gang: Kontrolle der gesamten Menge des Energieverbrauchs und Kontrolle der Energieintensität der Produktion. Alle Regionen und Arbeitseinheiten sind per Verordnungen verpflichtet, bestimmte Werte in diesen zwei Bereichen zu erreichen. Bürgermeister und Parteisekretäre, die dabei versagen, müssen sich von ihren Träumen von Beförderung verabschieden. Unternehmen, die energieintensiv und schmutzig produzieren, sollen "geordnet" aus dem Markt ausscheiden. Betroffen dadurch sind zig-tausende Firmen. Zugleich versucht man die sogenannten "Strategischen Neuindustrien" wie erneuerbare Energien und neue Materialien zu entwickeln. Der Spagat kann aber nur gelingen, wenn die neuen Branchen Millionen neue Arbeitsplätze schaffen, um den Verlust durch die "Doppelkontrolle" auszugleichen.

Schafft China die Wende zum Wachstum, das weniger von Exporten und mehr vom Inlandskonsum getragen wird?

China muss die Wende schaffen, wenn es sich nachhaltig entwickeln will. Die Tatsache, dass sich die Einfuhren des Landes in den ersten Monaten dieses Jahres viel lebendiger entwickelt haben als die Ausfuhren, macht Hoffnung.

Können Sie einschätzen, wieviel des Wachstums in China Kredit-getrieben ist? Gibt es Kreditblasen? Wäre ein chinesischer Fall Lehman vorstellbar?

Es gibt keine seriösen Methoden, um die tatsächliche Höhe des Beitrags der staatskapitalistischen Kreditvergabe zum Wachstum präzise zu ermitteln. Dennoch lässt sich die Existenz einer Kreditblase vermuten. Insbesondere sind die Immobilienmärkte unter Druck geraten. Einen chinesischen Fall Lehman wird die Regierung aller Wahrscheinlichkeit nicht zulassen, allein aus der Angst vor einer innenpolitischen Unberechenbarkeit, die durch den Kollaps einer "systemrelevanten" Bank ausgelöst werden könnte.

Bei all dem guten Willen der Führung in Peking – machen nicht die Provinzen, was sie wollen? Können so Reformen überhaupt funktionieren?

Bei der Umsetzung der geplanten Reformen ist die Zentrale Regierung in Beijing auf das Mitmachen der Regierungen in den Provinzen angewiesen. Ihre Unterstützung ist jedoch nicht ohne weiteres zu bekommen. Die Führung hat noch sehr viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Auch die massive Antikorruptionsbewegung dient dazu, reformfeindliche Kräfte aus den Regierungsposten zu entfernen.

China will nicht mehr die verlängerte Werkbank der Welt sein, sondern in der Wertschöpfungskette nach oben kommen. Wie soll ein Land, das auf Konformität achtet, die kreativen Köpfe dafür hervorbringen?

Zwischen Konformität und Kreativität besteht kein unüberbrückbarer Gegensatz. Neulich berichtete die World Intellectual Property Organisation, dass China im vergangenen Jahr etwas mehr als 21.500 internationale Patente angemeldet hat. Damit überholte China zum ersten Mal Deutschland und belegt nun hinter den USA und Japan Rang drei von den Ländern mit den meisten Patentanmeldungen. Was China aber dringend braucht, ist eine Entbürokratisierung seines Hochschulsystems. Studierende sollen nicht als Werkzeuge behandelt und für die Märkte produziert, sondern zur Entwicklung eigenständiger Persönlichkeit nach dem Humboldt-Geist gebildet werden. Chinesische Unternehmen werden kreativer, wenn die Hochschulen mehr kreative
Köpfe hervorbringen.

China: Der steinige Weg Richtung Markt

Karriere

Xuewu Gu wurde 1957 in Hubei (China) geboren. Er studierte in Wuhan (China) und Köln. Nach verschiedenen Stationen ist Gu seit Oktober 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen und Direktor des Center for Global Studies an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Die chinesische Wirtschafts- und Finanzpolitik zählt zu seinen Schwerpunkten in der Forschung. Gu gilt international als führender China-Experte.

Business Circle

Auf Einladung des Business Circle kommt Prof. Gu am 10. April zum CFO-Forum nach Stegersbach.

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