Brexit: Handelsdelegierter in London sieht Einigung im letzten Moment

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Der Handel soll mit und ohne Abkommen schwieriger werden, an den Grenzen werde es sicher Verwerfungen geben.

Die Arbeitshypothese des österreichischen Wirtschaftsdelegierten in London bleibt unverändert: Es kommt in letzter Sekunde zu einer Einigung im Poker um einen Nach-Brexit-Vertrag zwischen Großbritannien und der EU. "Aber auch wenn es zuletzt doch eine Annäherung beim wichtigen Thema 'Level-Playing-Field' gab, steht ein Scheitern im Raum", sagt der WKÖ-Wirtschaftsdelegierte in London, Christian Kesberg, im Gespräch mit der APA.

Gute Chancen

Die bei den Briten so wichtigen Buchmacher sehen derzeit eine 70-Prozent-Chance auf eine Einigung. Das freilich dürfte vom Brexit betroffene österreichische Unternehmen wenig interessieren. "Von großer Bedeutung für viele österreichische Firmen wäre ein Freihandelsabkommen", sagt Kesberg. "Oder eine Basis für vernünftige Überbrückungsmaßnahmen. Verwerfungen an der Grenze werden auf jeden Fall entstehen."

Denn auch wenn es einen Deal geben sollte, bleibe nicht alles beim Alten, sagt der Wirtschaftsdelegierte. Überbrückungsmaßnahmen wären mit einem Deal leichter umsetzbar. "Dann ist man freundlich zueinander."

Jene heimischen Unternehmen, die intensiv in Großbritannien tätig seien, hätten ihre Hausaufgaben definitiv gemacht, so Kesberg. Rund 250 haben Niederlassungen bei den Briten. Etwa dieselbe Zahl treibt regelmäßig Liefergeschäfte. Weitere rund 500 sind sporadisch auf der Insel tätig. Vom Geschäftsvolumen her seien 95 Prozent der Firmen bestmöglich vorbereitet.

Förmliche Zollverfahren

Vor allem für letztere wird es komplizierter, ihre Geschäfte weiter zu tätigen. Unmöglich werde dies aber nicht. "Es ist alles machbar." Beispielsweise Internethändler brauchen künftig eine steuerliche Registrierung. Und auf Exporteure kommen förmliche Zollverfahren zu - egal ob mit oder ohne Freihandelsabkommen. Firmen ohne Niederlassung in Großbritannien brauchen einen Zollspediteur. "Den muss man natürlich bezahlen", sagt Kesberg.

Der Sozialversicherungsschutz bei Dienstreisen und Entsendungen sei noch ein Graubereich wie auch der Datenschutz im Datenverkehr zwischen Niederlassung und Sitz einer Firma. Offen ist beispielsweise auch noch, wie ein heimischer Tischler für einen heimischen Küchenhersteller in London eine Küche einbauen kann. Aus derzeitiger Sicht ist das nur mit eigenem Personal des Küchenherstellers okay.

Lehrstück

Auf die Frage, wovon die Verhandlungen vor allem abhängen, sagt der Wirtschaftsdelegierte, dass es um die Vorgänge im Kopf des konservativen britischen Premiers Boris Johnson gehe. "Es geht darum, was für ihn innenpolitisch vernünftig ist." Der volkswirtschaftliche Unterschied zwischen Abkommen oder Nicht-Abkommen sei gering. Ohne Abkommen könne er die Schuld der EU unterschieben, wenn er ein Abkommen hat, sei er dafür aber mitverantwortlich.

Dazu kämen viele "ultraorthodoxe Brexit-Befürworter" in den Reihen seiner Tories, die mit der Coronapolitik Johnsons nicht zufrieden seien, die es aber gelte zufriedenzustellen. "Es handelt sich um ein natürlich viel tragischeres als komisches tragikomisches Lehrstück einer Revolution des Nationalpopulismus gegenüber der liberalen Demokratie", so Kesberg. "Ein Verlustgeschäft für alle."

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