Wer Wahrheit will, gilt als Staatsfeind

Wer Wahrheit will, gilt als Staatsfeind
Die Politikwissenschaftlerin Nina Khrushchewa sprach mit dem KURIER über Macht und Medien in Russland.

Zensur und Unterdrückung von Meinungsfreiheit sind seit Langem Themen der Politikwissenschaftlerin Nina Khrushchewa. Bei "Literatur im Nebel" spricht die Urenkelin Nikita Chruschtschows (die englische Schreibweise ist Khrushchev) über das Verhältnis von Macht, Medien und Intellektuellen in Russland.

KURIER: Ihr Vortrag heißt "Der Verrat der Intellektuellen". Was meinen Sie damit?
Nina Khrushchewa: Sich an die Seite der Macht zu stellen, und deren Fürsprecher zu werden. Auszeichnungen anzunehmen von denen, die gegen faire Politik, freie Medien und Einhaltung der Menschenrechte sind. Das ist das, was ich den "Verrat der Intellektuellen" nenne.

Das ist in Russland nicht erst seit Putin so. Schon Sergei Prokofiew schreib Oden an Stalin, aber während unter Stalin große Angst herrschte, hat Putin die Kultur schlichtweg korrumpiert. Man verniedlicht das und sagt: ,Putin ist kein Demokrat, aber ein Stalin ist er auch nicht.’ Früher waren Künstler ihrer Rolle treu, auch wenn sie sich der Umarmung des Staates aus Angst ausliefern mussten. Im neuen Jahrhundert haben sie den Verlockungen von Putins Macht freudig nachgegeben – Alexander Solzhenitsyn, Valery Gergiev und andere.

Wer Wahrheit will, gilt als Staatsfeind

Wie sollen Intellektuelle agieren? Erst diese Woche wurden zwei Mitglieder der feministische Aktionsgruppe Pussy Riot zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Die, die sich für sie engagieren, werden ebenfalls bedroht– bei einer Demo in Moskau wurde Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow festgenommen.
Im letzten Jahr hat sich die Situation verändert. Intellektuelle gingen während der Parlamentswahlen 2011 auf die Straße. Davor jedoch ist es den Schriftstellern und Künstlern nicht gelungen, mit einer Stimme gegen Putins Geheimdienst-Gehabe aufzutreten, gegen Korruption und für Meinungsfreiheit. In den vergangenen Jahren wurde das Bürgerrechtsbewusstsein vom "einfachen" Volk urgiert und getragen. Lehrer, Autohändler, Pensionisten. Auch wenn jetzt ein paar Journalisten gegen die Pussy-Riot-Verhaftungen demonstriert haben, meinetwegen auch Kasparow – das mindert den Verrat der Intellektuellen noch lange nicht.

Ist es nicht einfacher, außerhalb Russlands gegen Putin zu sein?
Nein, um ein relevanter Kritiker Putins zu sein, muss man in Russland sein. Das ist wichtiger, als Russe zu sein.

Was riskiert Madonna, wenn sie bei einem Konzert in Moskau gegen das Pussy-Riot-Urteil demonstriert?
Nichts. Außer, dass sie vielleicht nicht mehr dort auftreten darf. Abgesehen davon finden die meisten Russen, dass sie das gar nichts angeht. Obwohl es nett von ihr ist, sich zuständig zu fühlen.

Hat sich die Rolle der Intellektuellen in Russland seit Jelzin verkleinert? Weil Putin die Medien mehr denn je instrumentalisiert?
Ja, in der Tat. Unter Jelzin ging die intellektuelle Energie in Richtung Geld und Medien. Putin schuf eine neue Diktatur, beschnitt die Meinungsfreiheit und die Macht der Medien.

Der Journalist Oleg Kashin widmete der 2006 ermordeten Journalistin Anna Politkowskaya einen Artikel, in dem er schrieb, so schrecklich könne eine Wahrheit nicht sein, dass sie es wert sei, dass ein Journalist dafür sterbe, denn Kritik mache keinerlei Eindruck auf die Machthaber.
Das Problem mit den russischen Machthabern, von den Zaren über Stalin bis Putin, ist, dass sie immer glauben, dass die Wahrheit dem Volk per se nicht gebührt, dass sie allein der Macht gehört. Jeder, der sagt, ,Wir wollen mehr Wahrheit und weniger Geheimnis", gilt als Staatsfeind. Wie kann man etwas verlangen, was der Macht allein gebührt?

Stimmen Sie dem Philosophen Michail Ryklin zu, der sagt: "In Russland sind die meisten Kritiker entweder im Exil oder angepasst."
Ja, absolut.

Russland im Fokus

Nina L. Khrushcheva lehrt internationale Beziehungen an der New School University in New York. Sie ist eine Urenkelin des ehemaligen russischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow.

Khrushcheva ist nächsten Freitag zu Gast beim dreitägigen Literaturfestival "Literatur im Nebel" und wird einen Vortrag über Russlands Intellektuelle halten. Die Schauspielerin Caroline Peters und der Chef der Wiener Festwochen, Markus Hinterhäuser, lesen Texte aus Russland. Zu Gast ist außerdem die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja. Am Samstag lesen u. a. die Autorin Sabine Gruber und die Schauspielerin Elisabeth Orth, am Sonntag die Autorinnen Olga Grjasnowa und Michiko Flasar sowie die Schauspielerin Maria Hofstätter. Karten ab 15 Euro.

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