"Aktien sind das Einzige, das noch Profit bringt"

Wiener Börse-Chef Christoph Boschan
Christoph Boschan über niedrige Zinsen, Ungleichheit und Wege, auch niedrige Einkommensschichten an den Ertragschancen der Wiener Börse zu beteiligen.

Seit fast einem Jahr ist der Deutsche Christoph Boschan Chef der Wiener Börse. Im KURIER-Interview präsentiert er jetzt seine Ideen, wie er der Börse zu neuem Schwung verhelfen will.

KURIER: Börsen sind etwas für Zocker, so die weit verbreitete Meinung in Österreich. Was würden Sie darauf antworten?

Christoph Boschan: Das ist schockierend. Viele meinen, Aktien gingen sie nichts an. Dabei sind sie in ihren Lebensversicherungen oder Pensionskassen.

Auch Lebensversicherungen sind inzwischen unbeliebt, weil sie kaum Ertrag bringen ...

Der Grund liegt in der Reaktion der Politik auf die Finanzkrise 2008. Sie hat die Geldschleusen so weit geöffnet, dass Sparen völlig ertragsfrei geworden ist. Investitionen in Eigenkapitalinstrumente, also Aktien, sind das Einzige, was überhaupt noch Rendite bringt. Logischerweise hätten Anleger darauf kommen müssen. Und 2009 bis jetzt haben Aktien auch fantastische Gewinne gebracht.

Die breite Masse hat davon nichts gemerkt. Wer hat davon profitiert?

Die Wissenden und Informierten. Das ist ja die große gesellschaftliche Tragik dabei. Die oberen ein, zwei Prozent in der Einkommensverteilung haben Aktien. Die unteren 50 Prozent haben keine. Und die, die ohnehin viel haben, profitieren nun von den Überrenditen. Natürlich besonders seit 2009, aber auch grundsätzlich: Selbst bei allen krisenhaften Verwerfungen, die man dem ATX zugestehen muss, haben wir über die vergangenen 20 Jahre eine Durchschnittsrendite von mehr als sechs Prozent pro Jahr. Das überrascht viele, weil es diese Fehlwahrnehmung gibt. Daher hat es gesamtgesellschaftlich Sinn, darüber nachzudenken, wie man diese Verteilungsproblematik lösen könnte.

Kann die Politik das ändern?

Sie kann in den ideologischen Schützengraben steigen und über noch mehr Steuern für die Wohlhabenden nachdenken oder über Finanztransaktionssteuern und höhere Kapitalertragsteuern. Oder man macht sich Gedanken darüber, wie man allen Einkommensschichten die Bewegungsfreiheit verschafft, in den Kapitalmarkt zu investieren.

Sind Aktien wirklich ein Anlageinstrument für Kleinverdiener?

Ich gestehe schon zu, dass Wohlhabende das Risiko eher nehmen können. Da muss sich die Politik schon überlegen, wie man den niedrigen Einkommen, die diese Mittel nicht haben, den Zugang verschafft. Deswegen habe ich vorgeschlagen, niedrige Einkommen von der Kapitalertragsteuer zu befreien. Der kleine Anleger empfindet das als Doppelbesteuerung. Er geht arbeiten, zahlt seine Lohnsteuer. Und dann kümmert er sich um seine Altersvorsorge und muss den Ertrag wieder versteuern.

Steuer-Anreize für Kleinaktionäre. Reicht das, um die Österreicher zu Börse-Anlegern zu machen?

Nein. Es muss sich im Bildungssystem etwas ändern. Bildung ist der beste Anlegerschutz. Die Leute müssen selbstbewusst ran an das Thema. Man kann über noch höheres Funding für die Verbraucherschutzorganisationen nachdenken, oder die Anleger entmündigen und sie komplett von der Börse wegziehen. Aber die Renditen bleiben wie sie sind und werden weiter wenigen zugutekommen. Die Wiener Börse engagiert sich beim Bildungsthema. Wir haben heuer mehr als 300 Veranstaltungen für Privatanleger und Schüler. Aber das Finanzbildungs-Thema gehört in die Lehrpläne. Man muss die Leute befähigen, Aktien zu nutzen. Wir haben ein Positionspapier erarbeitet und an die Parteien verteilt.

Wie reagierte die Politik?

Wir hatten offene Gespräche. Aktuell hat noch keiner der politischen Akteure das Kapitalmarktthema auf dem Tableau. Das ist die große Tragik. Denn ich kenne nur Studien, die sagen, alle entwickelten Industrienationen mit erfolgreichem Kapitalmarkt haben schnelleres Wachstum, sie erholen sich schneller von Krisen. Auch in Österreich hängt nicht zuletzt jeder elfte Arbeitsplatz am Kapitalmarkt. Jeder Euro, der im Kapitalmarkt investiert wird, wirkt sich mit zwei, drei Euro im Bruttoinlandsprodukt aus. Wer auch immer nach der Wahl Österreich regiert, sollte diesen Hebel nutzen.

Nun sind Sie fast ein Jahr Chef der Wiener Börse. Wie ist der Unterschied zu Deutschland?

Die Finanz-Community, also Banken, Finanzdienstleister, sind sehr bemüht um den Kapitalmarkt in Wien. Wünschenswert wäre, wenn das in das gesamtgesellschaftliche Umfeld hineinwirken würde und politisch mehr Anerkennung fände. Einer der großen Unterschiede zu Deutschland ist, dass erfolgreiche Firmen hier lieber Bankkredite nehmen als an die Börse zu gehen. Daher ist die Marktkapitalisierung an der Wiener Börse auch vergleichsweise gering.

Kredite sind ja auch extrem billig. Unternehmen verlassen daher die Börse. Ein Trend?

Das ist der Punkt. Das ist allerdings nicht nur ein österreichisches Phänomen. An der US-Technologiebörse NASDAQ sind heute halb so viele Unternehmen wie vor zwanzig Jahren. In Deutschland sind seit 2012 knapp 300 Unternehmen delistet worden. In Österreich waren es 16. Das entscheidende Wettbewerbsmerkmal bei Finanzierungen sind eben die Kosten. Bei Null-Zinsen fällt die Entscheidung dann zugunsten des Fremdkapitals. Börsengänge finden daher in Europa kaum statt.

Und in Österreich gar nicht. Ist die Börse für Klein- und Mittelbetriebe völlig unattraktiv?

Österreich hat es zustande gebracht, das KMU-Segment gänzlich wegzuregulieren. Das war ein einzigartiger europäischer Alleingang. KMU dürfen nämlich seit einem Jahr nur mit Namensaktien in den sogenannten Dritten Markt. Und dafür muss ein Register geführt werden. Dieses Register gibt es aber in Österreich nicht. Damit ist der Zugang nicht mehr möglich. Die noch größere Groteske ist: Für ausländische KMU gilt das in Österreich nicht.

Trocknet der Wiener Aktienmarkt also aus?

Wie gesagt, Delistings sind ein internationaler Trend. Mit steigenden Kreditzinsen wird sich das aber ändern. Die Politik muss allerdings dafür sorgen, dass bis dahin der Markt nicht zusätzlich belastet wird. Also: die Zugangsbeschränkungen für KMU wieder aufheben, Steueranreize setzen. Wir von der Börse sorgen für ordentliche Infrastruktur, günstige Gebühren und Transparenz. Und was viele vergessen: Es notieren zwar weniger Aktien als früher, aber auch viel, viel mehr Anleihen. Da haben wir einen absoluten Listing-Rekord. Und die Wiener Börse macht seit dem Frühsommer auch internationale Aktien für Anleger an ihrer Heimatbörse verfügbar. Anleger dürfen sich hier künftig noch mehr erwarten.

Das Wissen um Kapitalanlagen und den Finanzmarkt ist nicht nur in Österreich schwach ausgebildet. Laut einer Studie des Internationalen Netzwerks für Finanzbildung der OECD haben sogar die Spitzenreiter noch einigen Aufholbedarf. In den G-20-Staaten plus die Niederlande und Norwegen wurde die Befragung, bei der ein Maximum von 21 Punkten zu erreichen war, durchgeführt. Aber auch das beste Land, Frankreich, erreichte nur 14,9 Punkte. An zweiter Stelle rangieren Norwegen und Kanada. Österreich wurde nicht explizit untersucht.

Der heimische Verband der Financial Planners, der sich des Themas annimmt, befürchtet, dass mit der Digitalisierung noch größere Anforderungen an die Kenntnisse über finanzwirtschaftliche Zusammenhänge entstehen. "Nur wer dies auch versteht, kann Finanz-Entscheidungen treffen", sagt Verbands-Chef Otto Lucius.

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