"Ich sag’ mir: Reiß dich zusammen!"

"Ich sag’ mir: Reiß dich zusammen!"
Besonders in der Weihnachtszeit fühlen sich viele Menschen in Österreich alleine

Außer dem zwei Meter langen Vorzimmer besteht die Gemeindewohnung in Wien-Brigittenau nur aus Küche, Bad und einem Zimmer. Die drei Fotos, die hier an der Wand hängen, zeigen Katzen. Im Wohnzimmer steht ein Einzelbett, gegenüber ein Fernseher, der den ganzen Tag läuft. Aus der Küche schaut eine lebende, neugierige Katze. Sie ist Dorothea Mutzbauers einzige Mitbewohnerin.

„Ich habe in den vergangenen Jahren immer Katzen gehabt. Sie sind wie Kinder für mich.“ Mit einem Lächeln bietet sie ihrem Besuch etwas zu trinken an und setzt sich auf ihr Bett.

Besuch bekommt die 68-Jährige nicht oft. Sie lebt wie viele Frauen in ihrem Alter allein. Vor 15 Jahren bekam die Ehe der Pensionistin Risse. Sie zog aus der gemeinsamen Wohnung, ließ sich zwar nicht scheiden, lebt aber seitdem getrennt. Vor vier Jahren kam die Diagnose einer schweren Lungenkrankheit. Die Pensionistin ist fast ständig auf einen Sauerstoffschlauch angewiesen. Auch ihre Wirbelsäule macht Probleme. Das Haus kann sie seit Jahren nicht mehr selbstständig verlassen. „Meine sozialen Kontakte sind nach und nach weggefallen. Meine beste Freundin ist selbst sehr krank und kann nicht rausgehen. Nur mein Mann kommt mich manchmal besuchen.“ Zu ihrem Sohn hat sie kaum Kontakt. Warum, möchte sie nicht erzählen. „Meine Katze Tini ist die Einzige, die immer für mich da ist.“

Tagesablauf

Ihren Tag füllt Mutzbauer mit Tiersendungen im Fernsehen, mit Spielen im Internet und Kreuzworträtseln in der Zeitung. Die Heimhilfe kommt täglich für ein paar Stunden, die Krankenschwester jeden zweiten Tag. Doch nichts davon hilft ihr über die Einsamkeit hinweg. „An manchen Tagen ist es schlimmer als an anderen. Es kommt auf die Tagesverfassung an. Manchmal kommt es vor, dass ich ein paar Tränen verdrücke“, gibt die Pensionistin nur zögerlich zu. „Und dann sage ich mir selbst: Komm, reiß dich zusammen!“ Das Schwierigste sei die Hoffnungslosigkeit: „Worauf soll ich mich noch freuen? Ich mache keine Pläne mehr für die Zukunft.“

Zu Weihnachten fühlt sie sich besonders einsam. Trotzdem feierte sie gestern: „Ich habe mir den Christbaum und die Krippe aufgestellt und Kerzen angezündet. Das mache ich für mich.“ Ihr einziger Wunsch an das Christkind war ein Mitspieler für Würfelpoker gewesen.

Problem der Älteren

Laut Umfragen fühlen sich etwa zehn Prozent der Österreicher einsam. Marco Iljic ist Leiter der Nachbarschaftszentren des Wiener Hilfswerks und kennt viele der Geschichten dahinter: „Am meisten sind ältere Menschen betroffen, weil ihre Verwandten entweder weggezogen oder gestorben sind.“ Sonja Leonhardsberger, Leiterin des Bereichs Pflege und Betreuung in der Volkshilfe Wien, gibt ihm recht und ergänzt: „Wenn man in die Pension geht, fällt der Kreis der Kollegen weg. Wenn dann auch noch eine Krankheit auftritt und die Leute selbst nicht mehr das Haus verlassen können, fällt auch der Freundeskreis weg.“

Dann ist es wichtig, eine Aufgabe und Ziele zu haben. „Hat man das nicht mehr, ist die Gefahr zu vereinsamen sehr hoch“, sagt die Expertin.

Die Geschichten einsamer Menschen ähneln sich zwar, aber kein Fall ist gleich. Andrea Flöck würde den 24. Dezember am liebsten streichen: „Um die Weihnachtszeit wird einem so richtig bewusst, dass man einsam ist.“ Vor zehn Monaten starb ihr Ehemann. Die Wienerin hatte ihn im betreuten Wohnen des Samariterbundes kennengelernt, wo sie seit drei Jahren lebt.

Ihre 80-jährige Mutter lebt in Salzburg, über 300 Kilometer entfernt. Zu ihrer Tochter hat sie keinen Kontakt. Über die Gründe möchte auch Flöck nicht sprechen. Die 51-Jährige feierte Weihnachten heuer erstmals allein. „Da ist ein Loch, das nicht ausgefüllt werden kann“, beschreibt die Frühpensionistin ihr Gefühl der Einsamkeit.

Vor dem Heiligen Abend hatte sie am meisten Angst. Deswegen verplante sie den ganzen Tag. Einkaufen, Treffen mit Bekannten, Weihnachtsfeier im Nachbarschaftszentrum des Wiener Hilfswerks. „Aber die Zeit danach, wenn alle zu ihren Familien gehen, davor hatte ich Angst“, sagt die Rollstuhlfahrerin.

Freunde als Vorsorge

Aber Flöck gibt nicht auf. Sie geht ins Kino und spazieren, telefoniert viel. „Ich versuche, den Kontakt an die Außenwelt nicht zu verlieren.“ Seit einiger Zeit hilft sie bei der Nachmittagsbetreuung der Schulkinder im Nachbarschaftszentrum. „Das gibt mir das Gefühl, gebraucht zu werden. Das wertet einen auf.“

Einsamkeit ist kein Städtephänomen, betont Franz Kolland, Professor für Soziologie an der Universität Wien: „Sie können auch im Dorf völlig vereinsamen.“ Vor allem für ältere Frauen sei das ein Problem. „Wenn der Partner und Freunde sterben, bleiben sie oft alleine und können nur schwer neue Kontakte knüpfen.“

Deswegen sei es wichtig, schon als junger Mensch jüngere Freunde zu haben. „Wenn sie in der gleichaltrigen Gruppe unterwegs sind, werden sie im Alter ein Problem kriegen“, sagt Kolland. „Freunde zu haben ist das Wichtigste. Das ist die beste Altersvorsorge.“

Frau Mutzbauer sitzt noch immer auf ihrem Bett. Die Katze Tini macht sich wieder daneben breit, nachdem der Besuch die Tür hinter sich geschlossen hat.

Info:www.volkshilfe-wien.at und unter 01/405 60 60, oder auf www.hilfswerk.at bzw. unter 01/512 36 61

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