Hate Watching: Darum konsumiert man Inhalte, die man nicht mag

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Das Kiss-Cam-Debakel lehnen viele Social-Media-User entschieden ab, trotzdem konsumieren sie weiter Inhalte zum Thema. Warum?

Ein scheinbar harmloser Moment bei einem Coldplay-Konzert wurde zum wohl aufregendsten digitalen Spektakel der letzten Monate. Die Rede ist vom Kiss-Cam-Debakel, bei dem der Tech-CEO Andy Byron beim Fremdkuscheln mit einer HR-Mitarbeiterin erwischt wurde. 

Aus einem privaten Fehltritt wird eine öffentliche Echtzeit-Dramaserie. Der eigentlich wenig bekannte Byron avanciert dabei zum unfreiwilligen Star eines globalen "Hate Watching"-Phänomens. Abertausende schauen und teilen Videos, Memes und andere Inhalte, die sie moralisch jedoch eigentlich verurteilen oder gar ablehnen. Warum macht man sowas?

Was ist Hate Watching?

Einfach erklärt bedeutet Hate Watching nichts anderes, als dass wir Inhalte nicht trotz, sondern wegen ihres Reizpotenzials ansehen – weil sie uns eben aufregen, peinlich berühren oder provozieren. Ursprünglich prägte die US-Kritikerin Emily Nussbaum 2012 den Begriff, als sie im New Yorker über ihre ambivalente Beziehung zur Musical-Serie Smash schrieb. Das Prinzip: Erheiterung und Genuss durch Ablehnung – ein emotionales Wechselspiel aus Wut, Spott und moralischer Überlegenheit.

Warum schauen wir Dinge, die uns stören?

Eine qualitative Studie der University of Louisiana belegt, dass Hate Watching auf komplexen psychologischen und sozialen Dynamiken beruht. Es dient der Selbstvergewisserung, ermöglicht soziale Vergleiche und erzeugt emotionale Aktivierung – ähnlich wie bei süchtig machenden Reizen. Besonders Reaktionen wie Fremdscham, Abscheu oder Wut werden als befriedigend erlebt, weil sie unser Belohnungssystem stimulieren.

  • Selbstvergewisserung: Indem man sich über eine Serie, eine Person oder ein Verhalten empört, positioniert man sich moralisch oder intellektuell überlegen. Gedanken wie etwa "So jemand bin ich nicht" oder "Zum Glück bin ich nicht so peinlich wie der Kandidat in der Show" poppen währenddessen immer wieder auf.
  • Emotionale Aktivierung: Es werden Emotionen aktiviert, bei denen man "dran" bleibt, nicht weil sie gut sind – sondern weil sie uns emotional nicht kaltlassen.
  • Belohnung für das Gehirn: Beim Erleben intensiver Gefühle – selbst wenn sie unangenehm sind – werden Dopamin, Adrenalin oder Cortisol ausgeschüttet. Diese Neurotransmitter erzeugen kurzfristig ein "High", das unser Gehirn als lohnend abspeichert.

"Anti-Fandoms": Die Macht der Gegengemeinschaft

Aber nicht nur der psychologische Einzelaspekt spielt hier hinein, auch kollektive Dynamiken nehmen im Netz Fahrt auf. So formieren sich bspw. mit "Anti-Fandoms" digitale Gegenwelten zu klassischen Fangemeinschaften. Statt Bewunderung eint hier der gemeinsame Hass. Paradoxerweise erzeugen diese Gruppen laut Studien oft stärkere Bindungen als echte Fans. Denn: Geteilter Spott stiftet wiederum Identität. In dieser Dynamik wird Hate Watching zu einem Akt kollektiver Selbstvergewisserung – etwa durch das Posten spöttischer Reaktionen oder das Teilen moralischer Empörung.

Risiken: Vom Ventil zur Zynismus-Falle

Soziale Bindung, emotionale Stimulation und Gruppenzugehörigkeit machen Hate Watching attraktiv, doch es birgt auch Gefahren. Die Ungarische Akademie der Wissenschaften warnte in einer Studie: Wer sich dauerhaft negativen Inhalten hingibt, kann Zynismus, stereotype Denkmuster und emotionale Abstumpfung entwickeln. Besonders riskant wird es, wenn Hate Watching zum Ersatz echter Auseinandersetzung wird oder zur digitalen Suchtform mutiert.

Es ist verführerisch, jemanden wie den Tech-CEO Andy Byron in einem Skandal "fertigzumachen" – vor allem, wenn Macht, Arroganz oder moralisches Fehlverhalten im Spiel zu sein scheinen. Aber aus ethischer, gesellschaftlicher und psychologischer Sicht ist es problematisch, eine reale Person wie eine Reality-TV-Figur zu behandeln. Denn in letzter Zeit ist ein eben solcher Wandel zu beobachten: Während früher Formate wie Big Brother oder Dschungelcamp gezielt dafür entworfen wurde, kollektiven Spott hervorzurufen, rücken heute reale Personen in den Fokus. Hate Watching wird zur performativen Praxis, bei der User und Userinnen sich nicht nur empören, sondern aktiv Einfluss nehmen wollen.

Von Anna Kostka und Sophie Unger

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