"Sobald der Druck da ist, sind wir auch da"

Thomas Müller hat in Brasilien bereits vier Mal genetzt.
Müller spricht vor dem Viertelfinale über Druck und ungerechtfertigte Kritik.

Deutschland trifft am Freitag im Viertelfinale auf Frankreich (18 Uhr MESZ). Vor dem Hit spricht Torjäger Thomas Müller (24) über die Kritik nach dem Algerien-Spiel, seine Rolle innerhalb der Mannschaft und warum die Deutschen Druck brauchen.

Michael Rosentritt: Herr Müller, rechnen Sie nach dem holprigen Algerienspiel mit einer Trotzreaktion gegen Frankreich?

Thomas Müller: Trotzreaktion? Ich weiß nicht. Offenbar gibt es unterschiedliche Sichtweisen, was das Spiel anbelangt. Ich kann ja mal für euch das Spiel betrachten.

Bitte, sehr gern.

Die erste Halbzeit war nicht das, was wir uns vorstellen. Wir hatten augenscheinlich zu viele Ballverluste, was automatisch dazu führte, dass wir Probleme bei den Gegenstößen bekamen. Schnelle Ballverluste machen es dem Gegner immer relativ leicht. In dieser Phase gab es ein paar Szenen, in denen wir einen guten Manu…

… Torwart Manuel Neuer

…ja, wo wir ihn gebraucht haben und auch ein bisschen Glück hatten. Aber mit Beginn der zweiten Halbzeit waren wir spielbestimmend. Wir hatten eine Vielzahl von guten Torchancen, die man – um anschließend keine Diskussionen zu haben - einfach mal machen muss. Ich denke, wenn wir das Spiel nach 90 Minuten mit 2:0 gewinnen, dann hätten wir nicht so ein kleines Theater, wie wir es jetzt haben. Aus unserer Sicht zumindest.

Wie ist denn die Sicht der Mannschaft? Fühlt sie sich ungerecht behandelt?

So will ich das nicht sagen. Aber sehen Sie, wir haben richtig Gas gegeben, wir haben uns auch nicht von den vergebenen Torchancen unterkriegen lassen. Wir haben bis auf ein, zwei Wackler wirklich ab der zweiten Halbzeit eine ordentliche Leistung gebracht. Wir waren in der Verlängerung spielbestimmend und haben dann zwei Tore gemacht.

Und eins bekommen.

Dass wir dann noch das Gegentor kriegen, ist ein kleiner Wermutstropfen. Das hat dann wohl wieder eine Schwachstelle aufgezeigt, wegen der man aber nicht sagen kann, dass der Sieg letzten Endes souverän war. Das sorgt dann für eine negative Sichtweise.

Was meinen Sie mit „kleines Theater“? Halten Sie die Kritik für überzogen?

Die Kritik ist nicht überzogen. Die Art und Weise, wie sie rübergebracht wird, ist die falsche.

Zum Beispiel?

Was zum Beispiel soll die Frage nach einer Wiedergutmachung? Um Wiedergutmachung wofür? Wir sind in die nächste Runde gekommen. Noch einmal: Dass die erste Halbzeit nix war, wissen wir selbst. Und die inhaltliche Kritik, dass wir Fehler gemacht haben auf dem Platz, die nehmen wir gerne an. Aber wir haben uns 120 Minuten lang den Arsch aufgerissen und ein Spiel, das eng war, auch gewonnen.

Wir erklären Sie sich die massive Kritik?

Ich denke, es hat viel mit dem Namen des Gegners zu tun, der nicht so groß ist. Und dann ergibt es plötzlich eine Kluft zwischen der allgemeinen Erwartung und dem tatsächlichen Spiel.

Können Sie das nicht verstehen?

Ich habe irgendwo gelesen, dass 15 der 23 algerischen Spieler in Frankreich geboren sind. Die haben dort das Fußballspielen gelernt. Will sagen: Da sind auch beste Bedingungen. Ich denke also nicht, dass wir – wie Per Mertesacker schon richtig gesagt hat – gegen eine Karnevalstruppe gespielt haben. Natürlich ist unser Anspruch, gegen Algerien zu gewinnen. Das haben wir auch getan, auch wenn es über Umwege war. Aber ich finde, man sollte nach dem Spiel nicht das Gefühl haben, dass wir uns entschuldigen müssen.

War der Ausspruch von Per Mertesacker nicht eine Überreaktion?

Nö, es war die Wahrheit, so wie er sich gefühlt hat. Er hat es doch auf den Punkt gebracht.

Schweißt die Kritik jetzt sogar noch mehr zusammen?

Nee. Worum geht es denn? Sollen wir es den Reportern zeigen, oder was? Wir spielen ja nicht für die Reporter. Sehen Sie: Wenn Mannschaften aus anderen Ländern so ein Spiel in dieser Art gewinnen, wird es als Cleverness ausgelegt. Und bei uns? Ich will nicht Weltmeister werden und danach mich hinstellen müssen und sagen: Sorry, dass wir das Finale bloß mit einem Tor Unterschied gewonnen haben.

Dann hat die Kritik die Mannschaft doch ganz schön getroffen, oder?

Dass es Kritik gibt, ist gut und richtig so, aber es sollte nicht so sein, dass der Ausblick immer so negativ ist. Man kann doch sagen, das Spiel war Mist, aber wenn die Mannschaft das und jenes besser macht, wird es werden. Und nicht: Gegen Frankreich fliegen wir sowieso raus, denn die sind im Vergleich zu unserer Leistung ja eine Übermannschaft.

Ist dieser Eindruck rübergekommen?

Ja, so kommt es rüber. Ich verstehe ja, dass sich extreme Überschriften besser verkaufen.

Über Sie gibt es doch nur gute. Spieler wie Özil oder Götze stehen da mehr im Fokus der öffentlichen Kritik.

Natürlich, ich hab im ersten Spiel drei Tore gemacht, da bist du natürlich erst mal fein raus. Aber wenn ich an die EM vor zwei Jahre denke… Da habe ich gegen Dänemark eine Torchance, schieß aber leider den Torwart an. Ich habe in drei Vorrundenspielen kein Tor geschossen, was mir auch angekreidet wurde. Ich weiß nicht, wie ich‘s sagen soll: Das Problem ist wohl, dass Ihr uns an unserem vermeintlichen Potenzial messt. Ihr seht, wir hatten im letzten Jahr ein deutsches Champions-League-Finale. Aber du kannst nicht immer nach deinen Wunschvorstellungen spielen, du musst dich eben auch mal reinarbeiten.

Und, ist die Mannschaft jetzt drin?

Jeder nimmt sich doch vor, in diesen vier Wochen alles rauszuhauen, was drin ist. Und da gibt eben Phasen, da geht es besser und leichter und dann wieder nicht. Ich muss aber auch sagen, dass ich im Vergleich zur WM vor vier Jahren ein viel besserer Spieler geworden bin. Von den Fähigkeiten her, auch wenn das nicht nur an Toren messbar ist, sondern davon, wie viel Einfluss man nehmen kann.

Auch auf das Spielsystem, was heitere Diskussionen ausgelöst hat?

Zu Systemfragen kann ich hier jetzt keine Stellung nehmen. Das macht erstens keinen Sinn, zweitens müssen wir da geschlossen auftreten. Warum ist denn Fußball so interessant für 80 Millionen Deutsche?

Sie werden es uns sagen.

Weil man drüber diskutieren kann. Das habe ich doch früher auch gemacht vor dem Fernseher. Mensch, warum machst du den nicht rein? Warum wechselt er jetzt den aus und warum spielt der nicht? Mein Gott, warum können die keine Ecken schießen, die trainieren doch sonst nix anderes. Dass jeder da eine andere Meinung hat, welcher Spieler wo am besten zum Einsatz kommt, ist doch klar. Aber wir fahren als Mannschaft eine Linie, und der Trainer gibt die Richtung vor. Und da stehen wir dann auch dahinter.

Stehen Sie auch hinter Lahm im Mittelfeld?

Oh, ich finde sogar, dass unser Zentrum, also diese drei Mittelfeldspieler, egal wie sie heißen, einer unser Trümpfe ist. Wir sind stabil da, das Spiel nach vorn läuft über die Mitte. Dass im vorderen Bereich, dass bei diesem risikoreichen Aufbau, den wir auch wählen müssen um die Gegnerabwehr zu durchbrechen, dass da Fehler passieren, ist klar. Dass da zu viele Fehler passiert sind, ist auch richtig. Das müssen wir besser machen.

Halten Sie sich eigentlich selbst für einen unorthodoxen Spieler, oder übernehmen Sie das, weil es alle sagen?

Ich kann mich ja fast nicht dagegen wehren. Selbst wenn ich sagen würde, ich fühle mich als normaler Stürmer, würden Sie wohl sagen: Nee, das ist nicht so, oder?

Wenn Sie überzeugend argumentierten?

Ha, also aus meiner Sicht mache ich sinnvolle Dinge. Nein, ich sage es mal anders: Es passieren weniger Dinge spontan, als Sie vielleicht denken. Ich nehme vielleicht mehr Risiko. Das kann auch schiefgehen, aber sonst fallen halt keine Tore.

Würden Sie nicht mal gern gegen eine Abwehrkette stürmen, die aus vier Innenverteidigern besteht?

Wenn du den Ball im richtigen Moment kriegst, ist es egal, ob auf der Paninikarte IV oder AV steht …

… also Innenverteidiger oder Außenverteidiger…

Es geht um individuelle Eigenschaften der Spieler. Ich weiß ja, worauf sie anspielen. Nehmen Sie Benny Höwedes. Der ist in viele Kopfballduelle gegangen, wo er als Sieger hervorgegangen ist. Das ist der positive Aspekt. Von der Offensivkraft ist das nicht zu vergleichen, wie wenn da jetzt Marcelo von Brasilien spielt. Jeder hat Stärken und Schwächen, das weiß man doch vorher.

Gegen Frankreich dürfte Benedikt Höwedes vermutlich auf den wendigen Valbuena treffen.

Ich finde, dass es nicht viele gibt, die sich defensiv im Zweikampf besser anstellen als der Benny. Sie sprechen ja die Beweglichkeit an, aber auch da kenn‘ ich kaum Außenverteidiger, die im Eins-gegen-eins besser sind.

Wie könnte es denn nun gegen Frankreich laufen?

Meine Wunschvorstellung ist, dass wir auf einen vielleicht ein bisschen höher attackierenden Gegner treffen, und dass wir uns aus dem leichten Druck, den die Franzosen ausüben, befreien können und dadurch dann vorne mehr Freiräume vorfinden als gegen Algerien.

Was macht das Spiel der Franzosen aus?

Sie haben mannschaftlich sehr geschlossen und entschlossen gespielt, so wie wir. Sie sind auch nicht so sehr von Einzelspielern abhängig, sondern kommen übers Kollektiv. Sie verfügen natürlich über fähige Spieler vorn, die immer was kreieren können, aber sie haben auch viele Arbeiter dabei mit guten Laufleistungen. Es wird einem leider nichts geschenkt.

Freuen Sie sich aufs Maracana?

Klar, ich habe gehört, dass es dort mal ein Spiel mit über 200 000 Zuschauern gegeben haben soll. Das sagt doch alles.

Jetzt passen längst nicht mehr so viele rein, dafür wird aber Ihre Familie dabei sein…

Also, es hat nichts mit dem Aufenthaltsort meiner Eltern zu tun, wie gut ich spiele. Ich spiele für mein Land und sonst um des Fußballs willen.

Was darf die Deutschen zuversichtlich machen?

Wir haben seit – ich weiß gar nicht wie lange es her ist – kein Spiel mehr verloren. Wir sind eindeutig eine Wettkampfmannschaft. Das hat ja auch das 2:1 gegen Algerien gezeigt: Sofern der Druck ein bisschen weg ist, werden wir nachlässig. Das ist einfach so. Aber das heißt auch, sobald der Druck da ist, sind wir auch voll da. Ich wünsch mir einfach, dass wir hier richtig was reißen und zusammen feiern können.

Ich habe schwer gelitten in den letzten Tagen. Natürlich mit meinen Schweizer Landsleuten nach dem überragenden Spiel gegen Argentinien. In meinen Augen hätte sich die Schweiz den Viertelfinaleinzug verdient.

Aber auch die Deutschen haben mich in Atem gehalten. Es war ein unglaublich enges Spiel gegen eine starke algerische Mannschaft. Natürlich kann ich verstehen, dass jetzt in Deutschland einige Fans enttäuscht sind, weil sie sich eine deutlichere Überlegenheit erhofft hatten. Aber Algerien hat eine starke WM gespielt, lange gegen Belgien geführt und am Ende die Russen ausgeschaltet.

Und vielleicht ist es ja ein psychologischer Vorteil, dass vor dem Viertelfinale viele die deutsche Mannschaft kritisieren und Frankreich als Favorit sehen. Aus solchen Situationen ist Deutschland immer gestärkt hervorgegangen.

Taktiker Deschamps

Natürlich ist die sportliche Herausforderung eine ganz andere. Es wird die bisher härteste Prüfung der WM. Die Franzosen spielen ein gefestigtes 4-3-3, sie haben einen guten Trainer, aber im Achtelfinale gegen Nigeria ebenfalls Probleme gehabt – Nigeria war in der ersten Halbzeit besser. Trainer Deschamps hat dann sehr gut reagiert und Griezmann für Giroud eingewechselt. Mit Griezmann war es eine ganz andere Mannschaft, und deswegen denke ich, dass er auch gegen die Deutschen beginnen wird, wahrscheinlich in einer Linie mit Benzema und Valbuena.

Ich lasse mich überraschen, auch von dem taktischen Duell zwischen den beiden Trainern. Joachim Löw ist ein versierter Stratege, sein Stab hat die Franzosen genau beobachtet. Ich kann mir vorstellen, dass er gegen Frankreich einige Dinge ändert. Wenn du die Franzosen in Verlegenheit bringen willst, musst du ihre Abwehr unter Druck setzen. Das ist den Nigerianern in Ansätzen gelungen. Ich bin gespannt, wie die bisher recht souveräne französische Defensive damit umgeht, wenn sie noch mehr gefordert wird.

Schon vor der WM habe ich gemutmaßt, dass der linke Teil der Viererkette mit Evra und Sakho vielleicht empfindlich auf hohe Belastung reagieren könnte. Mal sehen, was sich Deschamps einfallen lässt, denn natürlich weiß auch er, dass die deutsche Offensive in Höchstform mehr zu bieten hat als Nigeria.

Lucien Favre ist Trainer beim deutschen Bundesliga-Klub Borussia Mönchengladbach, 2009 wurde er in Deutschland zum Trainer der Saison gewählt.

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