Glavinic: "Korrektheit wird überschätzt"
Mittags im 4. Wiener Gemeindebezirk. Im Schanigarten von Rudi’s Café lässt es sich trotz brütender Hitze halbwegs aushalten. Thomas Glavinic hat in der Nähe seinen Lebens- und Arbeitsmittelpunkt – auf der einen Seite seine Wohnung, auf der anderen sein Büro. Glavinic verzichtet auf Stecktuch und Sakko. Der 42-Jährige trägt Short und "Johnny Cash"-Ruderleiberl. "Ich liebe Johnny Cash", erklärt er Peter Hlinka, der inzwischen eingetroffen ist. Der Slowake, der schon bei Austria, Rapid, Sturm und zuletzt bei Wr. Neustadt gespielt hat, ist nicht nur guter Freund, sondern auch Schachpartner von Glavinic. Und vor allem dessen Fußball-Experte.
KURIER: Welche Parallelen zwischen Literatur und Fußball gibt es?
Thomas Glavinic: Ich sehe sie nicht. Da werden künstliche Zusammenhänge hergestellt von Menschen, die ohnehin gerne zu viel in etwas hineininterpretieren.
Unbestritten ist, dass sich viele Literaten und Intellektuelle zum Thema Fußball äußern.
Ich weiß, dass ich zu wenig weiß, um mich wirklich kompetent zu äußern. Bei mir ist das reines genüssliches Zuschauen. Wir haben ja in Österreich ohnehin so viele Leute, die glauben, dass sie Teamchef sind, wenn sie drei Mal gaberln können. Ein ähnliches Phänomen gibt es in der Literatur.
Das Feuilleton hat den Fußball entdeckt, sogar vereinnahmt.
Viele Intellektuelle wollen eben zeigen, dass sie eigentlich schon auch echte Männer sind. Sie glauben, dass sie dadurch jene Street Credibility bekommen, die ihnen sonst so abgeht. Fußball ist eben Kulturgut. Ich habe von der U 10 bis zur U 14 für Sturm gespielt, war aber selbst für einen Ergänzungsspieler zu schwach. Also bin ich einfach nur Fußballfan und zufällig Schriftsteller. 90 Prozent der Zuschauer verstehen ja nicht das Geringste von Taktik. Ich gebe das auch gern offen zu.
Warum bezeichnen Sie Ihr Buch "Herr Susi", in dem es ja auch um einen Fußball-Boss geht, heute als "nicht gelungen"?
Ich war Mitte 20 und brauchte das Geld. Also habe ich etwas konstruiert zu einem Thema, bei dem ich damals noch glaubte, ich würde mich wirklich darin auskennen. Immerhin konnte ich später verhindern, dass es noch als Taschenbuch erscheint.
Was bedeutet Fußball für Sie?
Es ist neben Schach das zauberhafteste Spiel der Welt. Wie im Schach muss man darum kämpfen, am Ort der Entscheidung stärker zu sein als der Gegner: vor dem gegnerischen König oder vorm Tor.
Wie macht sich das Phänomen Fußball bei Ihnen bemerkbar?
Ich kann mich heute noch exakt an ein Tor von Rudi Schauss im Jahr 1981 gegen ZSKA Moskau erinnern. Sonst kann ich mich an nicht mehr viel von 1981 erinnern. Das ist die Fußball-Magie.
Wie schaut Ihr Tagesplan während der WM aus?
Es gibt keinen Tagesplan, es gibt nur WM-Spiele. Und die schaue ich alle. Im schlimmsten Fall nehme ich mir eines für den nächsten Tag auf.
Wo und mit wem schauen Sie sich Fußballspiele an?
Immer öffentlich. Ich brauche die Kommentare der Zeitgenossen wie im Café Anzengruber. Ein WM-Finale alleine anzuschauen – da würde ich depressiv. 1978 im Finale das Tor zum 3:1 der Argentinier ist meine erste Fußball-Erinnerung. Seither hat jedes Finale einen Platz in meinen Erinnerungen. Das wäre doch fürchterlich, wenn ich wüsste, dass ich bei einem einsam vorm Fernseher gesessen bin.
Diskutieren Sie oft mit anderen Literaten oder Intellektuellen über Fußball?
Nie. Ich rede eigentlich nur mit Leuten über Fußball, die etwas davon verstehen. Und die mir etwas erklären können.
So wie mit Ihrem Freund Peter Hlinka oder Herbert Prohaska.
Dass ich mit Herbert Prohaska essen durfte, war Ergebnis einer Wette. Er wusste genau die Torfolge einer Sturm-Niederlage gegen die Austria. Prohaska ist ein hoch sympathischer Mensch, der viele Geschichten aus dem Fußball erzählen kann. Ich habe das wie eine Audienz empfunden.
Die TV-Rechte werden immer teurer und die Sender müssen ihr teuer erstandenes Produkt gut reden. Oder etwa nicht?
Der Fußball wird ja nicht nur im Fernsehen immer steriler. Auch im Stadion. Früher hat es ja gar keinen VIP-Klub gegeben. Jetzt ist der Fußball Teil einer durchkapitalisierten Welt. Mir ist die Reglementierungswut ein Graus. Emotionen werden verbannt. Auf der anderen Seite wird noch immer der längst nötige TV-Beweis verhindert. Warum soll sich einer beim Jubeln nicht das Leiberl ausziehen? Ich mag Jürgen Klopp auch gern, weil er seine Emotionen so auslebt. Ich als Nichtraucher sage: Warum soll ein Trainer nicht auf der Bank rauchen? Das ist doch Quatsch, dass nur der Fußball Vorbildfunktion haben soll.
Das wird von den Fußballern allerdings verlangt.
Bei der WM 1994 wurde gezeigt, wie Iwanow und Stoitschkow eine Stunde vor dem Spiel ein Bier getrunken haben. Und wenn ich an das Bild von Ogris und Kühbauer, Nase an Nase sehe, denke ich mir, dass solche Typen immer seltener werden. Korrektheit wird überschätzt, speziell auf dem Fußballplatz.
Wie halten Sie es mit der Korrektheit der Fans?
Ich hasse Rassisten, und ich mag keine Schläger. Ich will auch nicht, dass jemand verbal fertig gemacht wird. Da sollte es viel mehr Stadionverbote geben. Diese Leute, die ich gar nicht als Fans bezeichnen will, sind die unerfreulichste Begleiterscheinung des Fußballs.
Wann gehen Sie in Stadion?
Selten. Nur wenn mich jemand mitnimmt. Zuletzt war ich beim Länderspiel gegen Schweden im Stadion. In Graz war ich zum letzten Mal, als Sturm 2011 gegen Wacker Meister wurde. Aber das halte ich beim jetzigen Stil der Mannschaft nicht aus, da würde ich nur leiden.
Wie wurden Sie zum Sturm-Fan?
Das ist in meiner Familie Pflicht. Angeblich hat mein Uropa am Stadion mitgebaut. Mein Vater kommt aus dem ehemaligen Jugoslawien. Er hatte keine Wahl, musste Sturm-Fan werden.
Was ist schlimmer für Sie als Sturm-Fan – Anhänger des GAK, von Rapid oder Austria?
Mein Sohn ist zehn Jahre alt. Er weiß noch nicht, wohin er sich orientieren soll. Rapid oder Austria? Egal, wessen Fan er ist, es wäre ein Grund, ihn zu enterben.
So schlimm?
Nein, im Gegenteil. Ich lebe ja selbst schon lange in Wien und empfinde mich als Wiener. Man muss sich von alten Gewohnheiten lösen, deswegen lüfte ich jetzt ein Geheimnis: Ich bin in diesen Tagen Rapid-Mitglied geworden.
Können Sie sich auch für Salzburg begeistern? Oder gibt es eine Red-Bull-Hemmschwelle?
Ich habe kein Problem mit Red Bull. Die sind ja nicht böser als andere Firmen, nur weil sie mehr Geld haben. Neid ist unangebracht.
Haben Sie bei dieser WM einen Favoriten?
Mehrere sogar. Deutschland aus Trotz gegen die peinliche Deutschland-Feindlichkeit in Österreich. Ich mag ja diesen Minderwertigkeitskomplex nicht. Außerdem steht Deutschland nicht mehr für Typen wie Hans-Peter Briegel, sondern für schönen Fußball. Ich mag natürlich Kroatien wegen meiner Wurzeln. Und ich glaube, dass Italien Weltmeister wird.
Kann man bei einer solchen WM ausblenden, wie sehr die FIFA auch politisch agiert?
Klar gibt es Bestechung und Korruption. Es stinkt vor allem die Vergabe der WM 2022 an Katar zum Himmel. Auch wenn man sich vor Augen führt, dass dort bis zum WM-Start hochgerechnet 4000 Arbeiter sterben werden. Prinzipiell geht es aber immer um die Spiele, du willst ja Fußball sehen. Die Wahrheit liegt tatsächlich auf dem Platz.
Der Privatmensch Thomas Glavinic wurde 1972 in Graz geboren. Der Vater eines zehnjährigen Sohnes lebt in Wien. Glavinic spielte im Alter von fünf Jahren seine erste Schachpartie. 1987 erreichte er in seiner Altersklasse Rang zwei der österreichischen Schach-Rangliste.
Der Schriftsteller 1998 wurde sein Debütroman "Carl Haffners Liebe zum Unentschieden" veröffentlicht. Seither folgten "Herr Susi", "Der Kameramörder", "Wie man leben soll", "Die Arbeit der Nacht", "Das bin doch ich", "Das Leben der Wünsche", "Lisa", "Unterwegs im Namen des Herrn", "Das größere Wunder" und zuletzt "Meine Schreibmaschine und ich". Seine Werke wurden bisher in zwölf Sprachen übersetzt. "Der Kameramörder" und "Wie man leben soll" wurden verfilmt.
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