Umzingelt vom Chaos

Der Ansturm der Chilenen verursachte rund ums und im Maracana ein heilloses Durcheinander.

Im Redefluss, der aus dem Lautsprecher strömt, lässt sich das Wort "Flamengo" identifizieren. Niederschmetternd ist eine solche Erkenntnis. Noch elf U-Bahn-Stationen bis Maracana. Elf Stationen – eingequetscht vom Hintern eines stets schnaubenden Glatzkopfs, der im Online-Poker-Fieber hektisch sein Handy befingert. Im ständigen Mundgeruch eines Typen, der glaubt, durch pausenloses Grinsen entspannende Wirkung zu verbreiten, dabei seinen unkontrollierbaren Ellbogen in andere Körper steckt. Ein Mädchen von links, sichtlich peinlich berührt, längst auf jeden zwecklos gewordenen Protest verzichtet. Alles ist unverrückbar, millimetergenau eingekeilt in der roten Masse der chilenischen Fans.

Elf Stationen mit der Metro von Rio. Das bedeutet in diesen WM-Tagen ungefähr 20 Mal Zwischenstopp, verbunden mit jeweils minutenlangen Wartezeiten. Elf Stationen nur, aber beinahe eine Stunde des beklemmenden Gefühls, des Schweißausbruchs, während das gnadenlose Ausblasen der Klimaanlage Halt suchende, sich verkrampfende Hände an Metallstangen festzufrieren beginnt.

"Chi, Chi, Chi,... le, le, le", Gesundheit möchte man wünschen nach dem wiederholten Ausbruch des chilenischen Schlachtrufs.

Sturmflut

Sie sind hier, unüberhörbar, unübersehbar, unkontrollierbar. Sie haben es bloßgestellt das Chaos in der WM-Stadt Rio. Mehr als 100.000 sollen es am Tag des Spiels gegen Spanien gewesen sein. In einer TV-Nachrichtensendung war vom chilenischen Tsunami die Rede.

Völlig überfordert ist die für eine 10-Millionen-Metropole erbärmliche Kapazität der anscheinend taktlos verkehrenden Metro. U-Bahn-Netz? Eine schlichte Übertreibung. Es gibt zwei, viele Stationen parallel laufende Linien. Eine grüne, eine rote.

Hat man den brasilianischen Tempel des Fußballs vor Augen, ist noch längst kein Land in Sicht.

Schwarze Löcher

Auf einer Brücke verursacht eine völlig überflüssige Ticket-Kontrolle den nächsten Stau. Während des Spiels warten dennoch 20.000 Chilenen, die jede Menge Emotion, aber keine Karten besitzen. Danach wälzt sich die Schlange über eine provisorisch zusammengeschraubte Treppe, die derart schwer belastet ins Wanken gerät.

Das von der FIFA als so sicher und punktgenaue eingestufte, jedenfalls komplizierte Kartenverkaufssystem offenbart einmal mehr seine Schwachstellen. Die Polizei nimmt fünf Chilenen und einen US-Amerikaner fest, die auf dem in bunter Unübersichtlichkeit versteckten Schwarzmarkt Karten zum Preis von 15.000 Reais ( fast 5000 Euro) feilgeboten haben. Angeblich auch an den Fan gebracht haben.

Und wie kann es sein, dass es nahe der Copacabana in einem Reisebüro noch am Vormittag eines ausverkauften Spiels Matchkarten zu kaufen gibt, die es jedenfalls gar nicht geben dürfte. Je nach Lust, Laune und vor allem finanzieller Potenz um 1000, 1700 und jenseits der 3000 Reais. Wenig verwunderlich, dass im Maracana einige Plätze frei geblieben sind.

Wenig verwunderlich in weiterer Folge, dass sich ungefähr 100 chilenische Fans entschlossen haben, eine Stunde vor Spielbeginn den Sturm ins Stadion zu wagen. Hinein mit Gebrüll, ohne Gegenwehr, ohne Hindernis direkt in den Pressebereich. Sachschaden und Hysterie verbreitend, die sich bei Anstürmenden wie Medienvertretern wohl die Wage hielt.

"Das ist anscheinend so einfach gewesen", gibt der Mann von der FIFA unumwunden zu. Eine folgende offizielle Stellungnahme war schnell verfasst und verteilt. Vermittelt wurde: Schnell habe man die Lage unter Kontrolle gehabt. 85 Leute seien von der Militärpolizei abgeführt worden. Die in Gewahrsam genommenen Chilenen müssen innerhalb von 72 Stunden Brasilien verlassen, sonst drohe die wenig erfreuliche Zwangsabschiebung.

Verwirrungen

Eine Antwort bleibt geschuldet, wie so etwas geschehen kann. In einem Stadion, das einer Kaserne gleicht. Dabei ist der Wachsamkeit des Sicherheitspersonals vor dem Presseeingang sonst kein Makel vorzuwerfen. Kein Hustenzuckerl, welches nicht den Namen eines WM-Sponsors trägt, durchläuft die Kontrolle. Journalisten wissen davon zu berichten.

Als sicher gilt nur: Spaniens Teamchef Vicente del Bosque ist nicht wegen der Verwirrungen rund ums Stadion beinahe in den chilenischen Mannschaftsbus eingestiegen. Das hatte Gründe, die auf dem grünen Rasen liegen.

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