"Wir sind froh, dass wir noch leben"

Das Wasser hat den Spielzeuglaster aus dem Garten aufs Dach gespült – und alles vernichtet. „41 Jahre habe ich hier gewohnt“, sagt Zlimke Zlic, bevor sie in lautes Weinen ausbricht.
Drei Wochen nach der Katastrophe stehen die Menschen in Serbien vor dem Nichts.

Sve je unisteno." Alles ist hin. Nenad Popovic seufzt tief und presst die Schutzmaske fest ins Gesicht. Die Luft, die er atmet, stinkt. Stechend süßlich und modrig. Es ist der Gestank von totem Fleisch. Von toten Tieren, verwesten Lebensmitteln, vermischt mit dem Gestank von feuchtem Holz und feuchten Mauern. Es ist eine bestialische Mischung, die nur den hektisch summenden Gelsen gefällt. Manchmal zwitschert noch irgendwo ein Vogel. Sonst herrscht Stille in Obrenovac. Beängstigende Stille.

"Wir sind froh, dass wir noch leben"
Serbien Hochwasser Mai 2014 Obrenovac Lokalaugenschein Caritas

Vor dem großen Hochwasser Mitte Mai lebten knapp 72.000 Menschen in der serbischen Stadt, die zirka 35 Kilometer südwestlich von Belgrad liegt und am schlimmsten von der Flutkatastrophe in Serbien betroffen ist. Die meisten der 27 Todesopfer gab es hier. Bis auf wenige Tausend Bewohner, die trotz aller Risiken geblieben sind, wurde Obrenovac komplett evakuiert. Die Menschen leben seither bei Verwandten oder in Notunterkünften im ganzen Land, bis Mitte der Woche war die Stadt von der Außenwelt abgeschnitten und abgeriegelt. Der KURIER war eines der ersten Medien, die Zutritt zu der Geisterstadt bekamen, in die langsam, ganz langsam wieder Leben kommt – die ersten Bewohner kehren zurück. Und stehen vor dem Nichts.

So wie Nenad Popovic. "Sve je unisteno", sagt er wieder und immer wieder. "Alles ist hin." Sein Haus. Seine kleine Werkstatt. Alles. Sein ganzer Besitz.

Arm und ärmer

Und Besitz war in Obrenovac schon vor der Flut sehr relativ. 400 Euro pro Monat hatten die meisten Menschen hier zum Leben. Wenn überhaupt. "Die meisten sind Selbstversorger", sagt Darko Tot, Katastrophenhilfe-Koordinator der Caritas Serbien. "Sie haben kleine Felder rund ums Haus. Ein paar Hühner, Schweine, vielleicht eine Kuh, das war’s. Wenn einer einen Job hat, ein fixes Einkommen, dann ist das schon wow."

Jetzt ist in Obrenovac nichts mehr wow. Auch nicht bei der Familie von Nebojsa Simic. Auf dem schwarzen Jogginganzug seiner Frau Snezana steht zwar in fetten Lettern ELEGANCE. Aber das liest sich fast wie Hohn angesichts des verschlammten, stinkenden Schutthaufens, der von ihrer einst liebevoll eingerichteten Wohnküche geblieben ist.

"Wir sind froh, dass wir noch leben"
APA18712784-2_06062014 - OBRENOVAC - SERBIEN: Nebojsa Simic steht am Mittwoch, 04. Juni 2014, in seinem vom Hochwasser betroffenen Haus in Obrenovac in Serbien. Die Kleinstadt Obrenovac in Serbien war während des Hochwassers im Mai fast vollständig überflutet worden. +++ ACHTUNG SPERRFRIST BEACHTEN: GESPERRT BIS SAMSTAG 07. JUNI 2014, 05:00 Uhr - FREI FÜR SAMSTAGSAUSGABEN +++ FOTO: APA/GEORG HOCHMUTH

Wie ein Tsunami

Das Wasser kam in der Nacht auf den 16. Mai. Niemand hatte damit gerechnet. Niemand hatte sie gewarnt. Um 5 Uhr Früh riss die Sirene das Ehepaar Simic und seine beiden Kinder Ivona und Nikola aus dem Schlaf. Da stand das Stadtzentrum schon unter Wasser, die Hauptstraße war gut zwei Meter hoch überschwemmt. Die Siedlung Slivice hat es noch schlimmer erwischt. Hier steht das Häuschen der Familie Simic. "Es war wie ein Tsunami", sagt Snezana. Ihr Mann zeigt rauf zum Dach: "Schauen Sie, bis dort oben ist das Wasser gestanden. Fünf Meter hoch. Diese Straße war plötzlich ein tiefer Fluss. Drei Menschen sind hier ertrunken."

Jetzt ist das Wasser weg. Geblieben sind nur zerstörte Existenzen. Zerstörte Häuser, Berge von zerstörten Möbeln, zerstörtem Hausrat, zerstörtem Spielzeug, zerstörten Dokumenten und Erinnerungen. Und ein toter Fisch, der vor dem Haus der Simics mitten auf der Straße im Schlamm liegt. Daneben ein toter Hund, der wie die vielen Hühner, Schweine und Kühe in der Jahrhundertflut ertrunken ist – zwölf Tonnen totes Tier mussten entsorgt werden. Ob die Seuchengefahr damit gebannt ist, bleibt nur zu hoffen.

So etwas Ähnliches wie Hoffnung leuchtet plötzlich auch in den Augen von Nenad Popovic auf. "Seit heute haben wir wenigstens wieder Wasser." Wasser zum Überleben, Wasser zum Aufräumen, zum Putzen. Wie es danach weitergehen soll, weiß in Obrenovac heute noch niemand. "Wir sind froh, dass wir noch leben."

Ljuba Nikolic ist verzweifelt. Weinend steht sie in ihrem völlig zerstörten Haus in Lajkovac, auf dem Boden zwei Paar Schuhe, Lebensmittel und Hygieneartikel und eine Matratze. „Die Sachen hat mir die Caritas gebracht“, sagt Nikolic. „Es ist die erste Hilfe, die wir bekommen haben.“ Wir, das sind Nikolic und ihr Ehemann, der Sohn, die Schwiegertochter und die vier Monate alte Enkeltochter. Letztere sind bei Verwandten untergebracht – „das hier ist kein Umfeld für ein Baby“.

Insgesamt sind 1,6 Millionen Serben vom Hochwasser betroffen, fast 27 Menschen starben, Tausende haben ihr Zuhause verloren. Der Schaden wird auf mehr als eine Milliarde Euro geschätzt. Die Caritas Österreich hat für die Nothilfe am Balkan bisher rund 730.000 Euro zur Verfügung gestellt, die Hälfte davon für Serbien, sagt Klaus Schwertner, Generalsekretär der Caritas Wien. 5200 Familien werden damit in den kommenden Monaten unterstützt. In den ersten drei Wochen mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln und Babypaketen. Jetzt, in Phase zwei, mit Putzpaketen, Matratzen, Herden, Waschmaschinen. In der Rehabilitationsphase hilft die Caritas dann beim Wiederaufbau der Häuser und sorgt dafür, dass die Menschen wieder Vieh und Saatgut bekommen.

„Wir wollen den Menschen dabei helfen, wieder auf den eigenen Beinen zu stehen“, sagt der Auslandshilfechef der Caritas Österreich, Christoph Schweifer. „Dafür brauchen wir aber einen langen Atem. Und die Caritas kann das nicht allein leisten.“

Der KURIER hat deshalb die Hilfsaktion KURIER-AID-AUSTRIA ins Leben gerufen – alle Infos dazu hier und im KURIER am Sonntag.

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